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DER WESTEN (3/3) - Was kann aus ihm werden?

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Was "ungefähr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gängigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder für sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch für den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Überlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch.

Credits
Autor: Jean-Marie Magro
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Jean-Marie Magro, Thomas Loible, Jerzy May, Christopher Mann, Florian Schwarz, Benjamin Stedler, Peter Veit und Hemma Michel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz und Nicole Ruchlak
Im Interview: Bertrand Badie, Stephan Lessenich, Thomas Gomart, Abubakar Umar Kari, Heinrich August Winkler, Anne Applebaum, Joseph Henrich, Sadiq Abba

Linktipps:
Deutschlandfunk (2024): Wie Amerika Weltmacht wurde
Der deutsche Blick auf die USA ist geprägt von Bewunderung, Kritik und Klischees. Manche fragen sich: Spinnen die Amis? In dieser Serie liefern wir historische Erklärungen für transatlantische Missverständnisse. Folge eins: Amerika als Weltpolizist. JETZT ANHÖREN
SWR (2023): Die Zukunft der NATO – Wohin entwickelt sich das westliche Verteidigungsbündnis?
Zerstritten und nur bedingt einsatzfähig - diesen Eindruck hat die 1949 gegründete Nato lange gemacht. Mit dem Ukraine-Krieg scheint sich das westliche Verteidigungsbündnis wieder gefangen zu haben. Dennoch bleiben eine Menge Fragen: Wie geht die frisch erweiterte Nato künftig mit Russland um? Wo liegen die nächsten militärischen Hotspots? Was ist von den sich abzeichnenden Anti-Natos im Osten zu erwarten? Und wer folgt den USA in der Führungsrolle nach? JETZT ANSEHEN


Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK

SPRECHER
In dieser Serie über den Westen stellen wir große Fragen. Im ersten Teil haben wir erläutert, wer wir eigentlich sind, im zweiten Teil wie andere auf den Westen schauen.

MUSIK

Jetzt kommt der dritte und letzte Teil: Der Westen – Und die Frage: Was kann aus ihm werden?… Ich bin Jean Marie Magro. Wo ist also der Platz des Westens in einer Welt, die sich stetig verändert und in der die Ordnung der Nachkriegszeit ins Wanken gerät? In den ersten beiden Folgen haben wir viel über Werte, Psychologie und Ökonomien westlicher Staaten gesprochen, aber kaum über einen Aspekt, der elementar ist für die Stärke des Westens: seine Verteidigungsfähigkeiten. Es gibt verschiedene Gründe, warum nach dem Zweiten Weltkrieg Europäer und Nordamerikaner in Frieden leben und Wohlstand schaffen konnten. Einmal, weil sie Allianzen schlossen, sich nicht mehr bekriegten und zusammenarbeiteten. Aber auch, weil Feinde sich nicht trauten, sie anzugreifen. Die USA sind mit Abstand die größte Militärmacht der Welt, die Nato die stärkste Militärallianz. Fast alle westlichen Staaten sind Mitglieder des Bündnisses. Wobei auch die Türkei der Nato angehört, die nicht als westlicher Staat gewertet werden kann. Die Stärke der Nato, ihre Abschreckungsfähigkeit, gründet auf dem Artikel 5 ihres Vertrags: Wird ein Mitglied angegriffen, stehen ihm alle zur Seite. Ein Angriff auf das Baltikum bedeutet einen Angriff auf Washington. So die Idee. Aber was passiert, wenn der Präsident des stärksten Mitglieds das Bündnis infrage stellt, es „obsolet“ nennt?

1 Donald Trump, 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika
Einer der Präsidenten eines großen Landes fragte: „Sir, wenn wir nicht zahlen und von Russland angegriffen werden, werden Sie uns verteidigen?“ Ich sagte: „Sie haben nicht gezahlt, Sie sind Straftäter? Nein, ich werde Sie nicht beschützen. Ich würde Russland sogar dazu ermutigen, das zu tun, was zur Hölle es auch machen möchte. Zahlen Sie Ihre Rechnungen.“ Und das Geld sprudelte nur so herein.“

MUSIK

SPRECHER
Donald Trump erzählt hier von einem angeblichen Nato-Gipfel. Ob die Begegnung tatsächlich so stattgefunden hat, spielt hier gar keine Rolle. Trump stellte ab Frühjahr 2017 an die Nato vor große Herausforderungen, drohte sich aus dem Bündnis zurückzuziehen, wenn Länder wie Deutschland nicht - wie eigentlich zugesagt – zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben. Ende 2019, als es auch noch Streit zwischen Frankreich und der Türkei gab, diagnostizierte der französische Präsident Macron den „Hirntod“ der Allianz. Dabei ist die Nato für viele europäische Länder die wichtigste Sicherheitsgarantie, der Schild vor einem möglichen russischen Einmarsch, sagt Anne Applebaum, Kolumnistin beim amerikanischen Magazin „The Atlantic“:

2 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Menschen wie Trump könnten dieser Praxis ein Ende setzen und zwar wesentlich schneller, als viele denken. Natürlich gibt es einen Vertrag und Verpflichtungen, aber allein, wenn man sagt: ‚Ich, der Präsident, werde Polen nicht verteidigen, wenn es angegriffen wird‘, eröffnet er den Russen die Möglichkeit, es zu tun. Das ist meiner Meinung die größte Gefahr für den Westen.

SPRECHER
Donald Trump wurde nun erneut zum Präsidenten gewählt. Und er wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch wieder mächtig Staub aufwirbeln. Die Republikaner wollen nicht mehr, wie unter George W. Bush, den Weltpolizisten spielen, sondern sich auf die USA zurückbesinnen. Isolationismus ist das Schlagwort. Aber auch die Demokraten fordern die Europäer dazu auf, eigenständiger, souveräner zu werden, dass sie sich mehr um ihre eigene Sicherheit kümmern sollen. Der Pazifik verlangt mehr Aufmerksamkeit, vor allem der Systemrivale China. Die Welt von morgen wird anders aussehen als die von heute, ist der französische Politikwissenschaftler Bertrand Badie überzeugt. Und ohnehin, meint Badie, zwinge die Globalisierung die westlichen Länder, sich von den Logiken der Nachkriegsordnung zu verabschieden und den Ländern des Globalen Südens - China, Indien, Südafrika, Brasilien und vielen mehr - auf Augenhöhe zu begegnen:

3 Bertrand Badie, emeritierter Professor für int. Beziehungen Sciences Po Paris
Wie all diese aufstrebenden Länder müssen wir im Westen lernen, uns von dem Begriff Allianz zu verabschieden, der altmodisch und auch gefährlich ist, weil er andere ausschließt: Die NATO ist das wichtigste Militärbündnis, das es in der Welt gibt. Das Ergebnis ist, dass sie von allen, die außerhalb stehen, als etwas bezeichnet wird, das sich nur um sich selbst kümmert und eine ständige Bedrohung darstellt. Russland nutzt das böswillig aus. Aber die Länder des Südens verstehen die Sprache Putins, weil sie sehen, dass die alten europäischen Mächte weiterhin dieses aggressive Eigenleben pflegen, das sich in einem Militärbündnis ausdrückt. Daher muss das Wort Bündnis durch Partnerschaft ersetzt werden.

SPRECHER
Die Kommunistische Partei in China, sagt Bertrand Badie, schließe niemals Allianzen, weigere sich sogar den Begriff in den Mund zu nehmen. In anderen Teilen der Welt besiegeln Länder zwar Handelszonen, verzichten aber meist auf Allianzen, die andere ausschließen. Getreu einem alten Zitat, das Charles de Gaulle während des Zweiten Weltkriegs zugeschrieben wird: „Staaten haben keine Freunde, nur Interessen.“ Derselbe de Gaulle unterzeichnete zwei Jahrzehnte später den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. Doch welche Vorteile sollen losere Partnerschaften im Verhältnis zu Allianzen bieten? Bertrand Badie:

4 Bertrand Badie, emeritierter Professor für int. Beziehungen Sciences Po Paris
Partnerschaften mit jedermann zu entwickeln, bedeutet nicht, sie zu heiraten. Es ist wie mit der freien Liebe im privaten Bereich. Je nach Umständen wechseln Sie den Partner, was die Grundlage für ein neues Gleichgewicht in der Welt schaffen könnte. In einer globalisierten Welt akzeptiert jeder, mit jedem zu arbeiten. Gerade befinden wir uns noch in einer Welt der Vertikalität.

MUSIK

SPRECHER
In der internationalen Staatengemeinschaft, meint Bertrand Badie, gebe es immer noch zu große Ungleichheiten. Früher redete man in westlichen Staaten noch häufiger über die Erste, Zweite und Dritte Welt, was viele als abfällig empfanden. Diese Ungleichbehandlung, meint Badie, ist in der Architektur der Nachkriegsordnung angelegt. Auffällig sei sie bei den Vereinten Nationen. Zwar sollen diese für Austausch und Interessensausgleich sorgen, doch gibt es immer Ungleichgewichte. Von den fünf permanenten Mitgliedern des Sicherheitsrates mit Veto-Recht sind drei westlich: die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich. Der Soziologe Stephan Lessenich denkt, wenn westliche Staaten sich nicht darum bemühen, anderen Teilen der Welt mehr auf Augenhöhe zu begegnen, werde der Westen automatisch unbedeutender. Internationale Organisationen müssten demokratisiert werden, fordert Lessenich, auch, wenn das dann massive Konsequenzen für den „alten Westen“ hätte:

5 Stephan Lessenich, Professor Soziologie Uni Frankfurt
Das würde ja auch da heißen "One Man, One vote" - dass man das abbildet. Die Struktur der Weltgesellschaft in eine Institutionordnung, in der natürlich dann der Westen peripherisiert wird oder provinzialisiert wird, das wäre die Folge davon. Dass der Westen dann nicht mehr, keine Ahnung, 50, 40, 30% Stimmanteile hat, sondern eben deutlich weniger.

SPRECHER
In der Welt von morgen, sind Badie und Lessenich überzeugt, sollten westliche Staaten also nicht mehr tonangebend sein, sondern eine von vielen gleichberechtigten Parteien. Beharren sie weiter auf der alten Logik, fachen sie nur die Abneigung an, die ihnen jetzt schon entgegengebracht wird. Auf lange Sicht ein gefährliches Szenario, das den Wohlstand des Westens erst recht gefährden könnte.

MUSIK

Aber wie sieht eine gerechtere, eine partnerschaftliche Welt aus? Sollte jedes Land, egal wie groß es ist, eine Stimme haben? Ginge es danach, hätten drei Viertel der Staatengemeinschaft den russischen Großangriff am 24. Februar 2022 auf die Ukraine verurteilt. ((Ähnlich deutlich wäre das Ergebnis, ginge es nach der wirtschaftlichen Stärke der Länder.)) Nehmen wir aber die Größe der Bevölkerungen, so wäre die Sache nicht mehr eindeutig. Länder wie China, Indien, Vietnam, Südafrika, Pakistan und Iran enthielten sich. Zählt man die Staaten dazu, die bei der Abstimmung abwesend waren, haben die Vertreter von 4,6 Milliarden Menschen der Resolution ES-11/1 nicht zugestimmt. Das ist mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Das heißt nicht, dass diese Staaten Russlands Einmarsch ausdrücklich befürworten würden. Aber sie haben eben nicht öffentlich verurteilt. Jedenfalls zeigt diese Zahl: Der Westen ist nicht die Welt. Dass gehandelt werden muss, darüber sind sich eigentlich alle einig. Aber wie kann eine neue Weltordnung aussehen? Erwartungsgemäß liegt die Antwort nicht leicht auf der Hand: So hat unter deutsch-namibischer Führung die Vollversammlung der Vereinten Nationen Ende September den sogenannten Zukunftspakt angenommen. Sicherheitsrat und globale Finanzarchitektur sollen reguliert werden, damit Länder des Globalen Südens leichter an Kredite kommen. Klingt vage, für Kritiker ist es der kleinste gemeinsame Nenner. Doch selbst gegen diesen stimmte Russland. Es hat schon mehrere Initiativen gegeben, den Einfluss von nicht-westlichen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen zu steigern. Sogar angetrieben vom Westen, berichtet Thomas Gomart von der Pariser Denkfabrik Ifri. Doch diese Vorstöße scheiterten häufig an den aufstrebenden Ländern selbst - im folgenden Beispiel an China:

Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris
Frankreich befürwortet als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats, dass dieser um vier Länder erweitert wird. Nur ist es nach Ansicht von China inakzeptabel, dass Indien oder Japan in den Sicherheitsrat aufgenommen werden.

MUSIK

SPRECHER
Trotzdem wird China in den Ländern des Globalen Südens oft als fairerer und besserer Partner wahrgenommen als die USA oder ehemalige Kolonialmächte wie Frankreich und das Vereinigte Königreich. China wirbt damit, dass es einst von denselben Ländern unterworfen wurde wie Staaten im Nahen Osten oder in Afrika. China investiert. Zugstrecken, Staudämme, Flughäfen, Raffinerien, ja sogar Fußballstadien baut es in Afrika. Inzwischen hat Peking die USA und Frankreich als ersten Handelspartner des Kontinents abgelöst. 170 Milliarden Dollar beträgt das Volumen. Dafür sichert sich China wichtige Rohstoffe, die es braucht, um zum Beispiel Elektroautos zu bauen. Wir sind wieder bei dem Punkt angekommen, den wir schon in der zweiten Folge angerissen haben. Das Zitat der aus Nigeria stammenden Generaldirektorin der Welthandelsorganisation WTO, Ngozi Okonjo-Iweala: „Wenn wir mit China reden, bekommen wir einen Flughafen. Reden wir mit Deutschland, einen Vortrag.“ Der nigerianische Politikwissenschaftler Abubakar Umar Kari fordert, der Westen müsse sein Verhältnis mit den ehemaligen Kolonien auf neue Füße stellen:

7 Abubakar Umar Kari, Professor Politikwissenschaften Uni
Und zwar durch Kooperationen und Partnerschaften, die für beide Seiten vorteilhaft sind, und kein einseitiges, parasitäres Verhältnis, das die Beziehungen in der Vergangenheit geprägt hat.

MUSIK

SPRECHER
In dieser Forderung schwingen zwei Vorwürfe mit: Der erste lautet, selbst Jahrzehnte nach dem Kolonialismus beute der Westen weiterhin den Kontinent aus. Aber afrikanischen Staatschefs und Intellektuellen geht es auch um die Werte, die der Westen proklamiert. Hilfen würden zurückgehalten, dringend benötigte Infrastrukturprojekte auf Eis gelegt, wenn westliche Staaten Defizite bei Rechtsstaat und Demokratie feststellten. Dabei, wenden Kritiker wie Abubakar Umar Kari ein, seien diese Werte von Nordamerikanern und Europäern. Denkt man diesen Vorwurf zu Ende, bedeutet das, dass zum Beispiel die Menschenrechte nicht universell sind und damit nicht für alle Menschen gelten würden. Dem widerspricht Thomas Gomart entschieden. Niemand werde gerne gefoltert, Punkt. Nur weil eine kleine Gruppe diese Werte erfand, ändere das nichts an ihrer Allgemeingültigkeit, so der Franzose. Trotzdem tut sich der Westen schwer, diese Werte einzufordern. Der Historiker Heinrich August Winkler:

8 Heinrich August Winkler, Historiker
Die westlichen Demokratien können ihre Werte niemandem aufzwingen, sie können aber immer für die unveräußerlichen Menschenrechte werben und sich für ihre weltweite Einhaltung einsetzen. Glaubwürdig wirkt das Engagement für die westlichen Werte freilich nur, wenn sich die Demokratien des Westens selbst an ihre Werte halten und selbstkritisch mit ihren Verstößen dagegen ins Gericht gehen. Die westlichen Demokratien dürfen nie mehr versprechen, als sie halten können.

MUSIK

SPRECHER
Nur wer seine eigenen Werte einhält, kann anderen vorwerfen, sich nicht an diese zu halten. Dafür ist entscheidend, dass westliche Länder afrikanische, südamerikanische oder asiatische nicht von oben herab behandeln. Allerdings müssen westliche Staaten auch lernen, mit Parteien umzugehen, die sich selbst häufig widersprechen, wenn es ihrer Erzählung passt, sagt der französische Historiker Thomas Gomart. Auf der einen Seite fordern nämlich Staaten des Globalen Südens, der Westen solle sich zurückhalten, dem Rest der Welt mehr Raum einräumen. Er habe viele Krisen auf der Welt zu verantworten, in Afrika, in Südamerika, im Nahen und Mittleren Osten. Der Interventionismus westlicher Staaten habe Weltregionen in Kriege und Krisen gestürzt. Gleichzeitig aber beklagen sich oft dieselben Länder, wenn der Westen sich in geopolitischen Fragen zurückhält. Ob im Nahostkonflikt, in Syrien, Jemen oder im Sahel: Wenn sich der Westen nicht einschaltet, scheint es genauso falsch zu sein, wie wenn er es tut.

MUSIK
Der Westen muss neue Logiken aufbauen, meint Thomas Gomart. Er muss aber auch die an Konflikten beteiligten Parteien dazu ermuntern, selbst Lösungen zu finden. Seine eigenen Allianzen dagegen über Bord zu werfen, davon rät der französische Historiker ab. Brasilien, einige afrikanische Staaten, aber auch Indien verfolgen laut Gomart einen transaktionalen Ansatz. Sie schließen keine Allianzen, sondern machen Geschäfte mit allen. Indien zum Beispiel kauft französische Kampfflugzeuge, verurteilt jedoch nicht den russischen Einmarsch in der Ukraine. Klingt rational, birgt aber Risiken, meint Gomart – speziell für Deutschland.

9 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris
Dieser Ansatz breitet sich zwar aus, er hat aber auch Grenzen. Und das sieht man speziell beim Thema Sicherheit in Europa. Die meisten Mitgliedsstaaten sind angewiesen auf die Sicherheit, die ihnen die EU und die Nato bieten. Das trifft ganz besonders auf Deutschland zu. Deutschlands Sicherheit hängt von der Nato ab.

SPRECHER
Man kann, man muss mit allen reden und in einer multipolaren Welt Beziehungen zu allen pflegen. Doch geht es um das Überleben des Staates und seiner Bürger, sei es wichtig, sein Lager nicht zu verlassen, meint Thomas Gomart. Sicherheit beschränkt sich dabei nicht allein auf einen militärischen Angriff eines feindlichen Staates. Es geht auch darum, dass jeder einzelne Staat seine Bürgerinnen und Bürger bestmöglich vor Risken und Gefahren schützen und Ängste ernst nehmen soll. In westlichen Ländern werden dabei häufig Debatten über Zuwanderung geführt. Ein großes Thema: Die Sorge vor einer Veränderung, gar Gefährdung der westlichen Kultur durch Migration von Menschen, die mit anderen als westlichen Werten aufgewachsen sind. Vor allem aus patriarchalisch geprägten islamischen Kulturen. Einige politische Kräfte, nicht nur extremistische, kritisieren zuviel Einwanderung. Diese gehe mit hörerer Kriminalität einher und verändere die Gesellschaften zum Schlechteren. Erfolgsgeschichten, die es auch im großen Stil gibt, werden dabei meistens unterschlagen.

MUSIK

Tatsache ist, dass der Anteil an Zuwanderern an der Gesamtbevölkerung wesentlich höher ist als in anderen Teilen der Welt. So sei in Europa, so die Internationale Organisation für Migration, fast jeder Achte zugewandert, lebe also in einem Land, in dem sie oder er nicht geboren wurde. Binnenflüchtlinge zählen also nicht mit rein, deshalb ist die Zahl in Asien und Afrika sehr gering; nicht einmal zwei Prozent.
Mehr als 50 Millionen Migranten leben in den USA, viele kamen aus Lateinamerika.

MUSIK

Politikerinnen und Politiker in westlichen Ländern wie Donald Trump, Viktor Orban und Marine Le Pen, beschreibt Anne Applebaum, bedienen sich der Ängste vieler Menschen vor Zuwanderung und Veränderungen. Sie trügen eine nationalistische Erzählung vor, sagt die Kolumnistin und Historikerin. In einer Zeit des schnellen Wandels versprechen sie die Rückkehr in eine Vergangenheit, in der alles gut gewesen sein soll:

10 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Es ist kein Zufall, dass viele politische Bewegungen nicht über die Zukunft sprechen, sondern in die Vergangenheit blicken. Make America great again ist ein Paradebeispiel dafür. Diese Politiker bedienen Nostalgie und sprechen von Revivals/Wiederaufleben. Das ist die Auswirkung eines sehr, sehr schnellen sozialen, politischen, demografischen und wirtschaftlichen Wandels.

SPRECHER
Der alte und neue Präsident Donald Trump versprach seinen Landsleuten im Wahlkampf, sich wieder auf sie zu besinnen. America first, les Francais d’abord, Deutschland zuerst. Diese Erzählung hat in vielen westlichen Staaten mal mehr, mal weniger Erfolg. Ein großes Problem unserer derzeitigen politischen Debatten im Westen, meint Applebaum, sei es, dass viele den innenpolitischen Wettstreit mit kriegsähnlichen Zuständen gleichsetzten. Es gehe um Gut gegen Böse, den Untergang des Abendlandes, das Ende der Zivilisation:

11 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Und genau hier wird es gefährlich, denn Politiker können Identitäten nicht ändern, sondern sich nur darüber aufregen. Wir sollten uns dafür stark machen, dass sich die Politik um Probleme kümmert, die sie lösen kann. Das Gesundheits- und das Bildungssystem, Straßen und Schulen. Wenn Sie es schaffen, die Debatte dorthin zurückzubringen, bekommen Sie eine normalere Politik.

SPRECHER
Egal ob in den USA, Frankreich oder Polen: Politik müsse wieder normaler werden, sich auf wesentliche Politikfelder konzentrieren, fordert die Historikerin, die 2024 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde.

MUSIK

Die Welt setzt sich neu zusammen – und wo ist unser Platz? Der Platz des Westens? Von Gesellschaften, die in den vergangenen Jahrhunderten entscheidend dazu beitrugen, dass die Welt auf verschiedene Weisen revolutioniert wurde. Sei es gesellschaftlich oder auch technologisch. Vielleicht ist an dieser Stelle, so kurz vor dem Ende dieser dreiteiligen Serie, die Zeit für eine Zusammenfassung gekommen. In der ersten Folge ging es um die Grundpfeiler des Westens, warum Menschen aus westlichen Ländern nicht „normal“, sondern „seltsam“ sind, wie der Harvard-Anthropologe Joseph Henrich sagt:

12 Joseph Henrich, Humanbiologe Universität Harvard
In einigen Regionen der Welt ist besonders wichtig, wie man sich anderen gegenüber präsentiert. Es geht darum, das Gesicht zu wahren, darum wie ein Netzwerk von Personen über Sie als Individuum denkt. (…) In westlichen Gesellschaften müssen Sie sich dagegen abheben und von anderen unterscheiden, um erfolgreich zu sein.

SPRECHER
Es ging außerdem um Gewaltenteilung, um Checks and Balances, um Vertrauen in unabhängige Institutionen. Die zweite Folge handelte davon, warum andere Teile der Welt Kritik am Westen üben. Besonders prägnant fasste das Sadiq Abba zusammen, der nigerianische Professor für Internationale Beziehungen:

13 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja
Unsere Wahrnehmung der westlichen Welt ist die eines bösen Imperiums, das nur für sich selbst da ist. Wenn du ihre Spiele, ihre Regeln mitspielst, bleibst du für immer ein Gefangener und ein Untertan, der ausgebeutet und enteignet wird.

SPRECHER
Es ging um die Vorwürfe, die den westlichen Staaten gemacht werden. Dass sie auf der einen Seite versprechen, jeder Mensch habe dieselben Rechte und eine unveräußerliche Würde. Andererseits hatten und haben viele Entwicklungsländer den Eindruck, westliche Leben seien mehr wert als die von sagen wir Venezolanern, Maliern oder Palästinensern.
Es ging um die Ambitionen der BRICS-Staaten, insbesondere Chinas, eine neue Weltordnung aufzubauen, in der dem Westen eine kleinere Rolle zukommen soll. Und natürlich ging es auch um die Bedrohungen des westlichen Projekts aus dem Inneren: Wie stark werden Demokratie, Rechtsstaat und internationale Zusammenarbeit von Autokraten bedroht, die durch Wahlen an die Macht kamen – oder kommen könnten?

MUSIK

Jahrhundertelang hat der Westen die globale Wirtschaft dominiert. Der Westen hat andere Teile der Welt unterworfen und ausgebeutet, Grenzen gezogen, die bis heute Krieg und Zerstörung nach sich ziehen. Man nehme nur den Nahen Osten mit den Grenzziehungen der Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg. Das kapitalistische Wirtschaftssystem und der Energiehunger der Menschen fördern einen solchen Raubbau an der Erde, dass wir inzwischen fast zwei brauchen, um unseren Wohlstand aufrechtzuerhalten. Aber der Westen brachte auch große Errungenschaften hervor: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. In Europa wurden aus Erbfeinden Freunde, Frieden wurde geschlossen, internationale Zusammenarbeit gefördert, es entstand technologischer Fortschritt, wie es ihn noch nie zuvor gegeben hatte.

Im Laufe der Jahrtausende gab es immer wieder Zivilisationen, die einen Vorsprung hatten und ihn einbüßten, gar verschwanden. Die alten Ägypter, Griechen und Römer, das Osmanische Reich oder China etwa, das heute seinen alten Platz für sich beansprucht. Wird es dem Westen ähnlich ergehen, dessen Bevölkerung immer kleiner und älter wird? In Deutschland hat sich wahrscheinlich niemand so intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt wie der Historiker Heinrich August Winkler. Und so ist es für mich nur logisch, dass ich ihm das letzte Wort lasse:
14 Heinrich August Winkler, Historiker
Der Westen hat seine weltpolitische und weltwirtschaftliche Dominanz längst verloren, aber die Anziehungskraft der Ideen von 1776 und 1789, also der Ideen der Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der repräsentativen Demokratie - diese Anziehungskraft hält unvermindert weltweit an.

MUSIK

Ich bin Jean-Marie Magro, und das war „Der Westen“.
Mit der dritten und letzten Folge: Was kann aus ihm werden?

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Was "ungefähr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gängigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder für sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch für den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Überlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch.

Credits
Autor: Jean-Marie Magro
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Jean-Marie Magro, Thomas Loible, Jerzy May, Christopher Mann, Florian Schwarz, Benjamin Stedler, Peter Veit und Hemma Michel
Technik: Wolfgang Lösch
Redaktion: Thomas Morawetz und Nicole Ruchlak
Im Interview: Bertrand Badie, Stephan Lessenich, Thomas Gomart, Abubakar Umar Kari, Heinrich August Winkler, Anne Applebaum, Joseph Henrich, Sadiq Abba

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Deutschlandfunk (2024): Wie Amerika Weltmacht wurde
Der deutsche Blick auf die USA ist geprägt von Bewunderung, Kritik und Klischees. Manche fragen sich: Spinnen die Amis? In dieser Serie liefern wir historische Erklärungen für transatlantische Missverständnisse. Folge eins: Amerika als Weltpolizist. JETZT ANHÖREN
SWR (2023): Die Zukunft der NATO – Wohin entwickelt sich das westliche Verteidigungsbündnis?
Zerstritten und nur bedingt einsatzfähig - diesen Eindruck hat die 1949 gegründete Nato lange gemacht. Mit dem Ukraine-Krieg scheint sich das westliche Verteidigungsbündnis wieder gefangen zu haben. Dennoch bleiben eine Menge Fragen: Wie geht die frisch erweiterte Nato künftig mit Russland um? Wo liegen die nächsten militärischen Hotspots? Was ist von den sich abzeichnenden Anti-Natos im Osten zu erwarten? Und wer folgt den USA in der Führungsrolle nach? JETZT ANSEHEN


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Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
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In dieser Serie über den Westen stellen wir große Fragen. Im ersten Teil haben wir erläutert, wer wir eigentlich sind, im zweiten Teil wie andere auf den Westen schauen.

MUSIK

Jetzt kommt der dritte und letzte Teil: Der Westen – Und die Frage: Was kann aus ihm werden?… Ich bin Jean Marie Magro. Wo ist also der Platz des Westens in einer Welt, die sich stetig verändert und in der die Ordnung der Nachkriegszeit ins Wanken gerät? In den ersten beiden Folgen haben wir viel über Werte, Psychologie und Ökonomien westlicher Staaten gesprochen, aber kaum über einen Aspekt, der elementar ist für die Stärke des Westens: seine Verteidigungsfähigkeiten. Es gibt verschiedene Gründe, warum nach dem Zweiten Weltkrieg Europäer und Nordamerikaner in Frieden leben und Wohlstand schaffen konnten. Einmal, weil sie Allianzen schlossen, sich nicht mehr bekriegten und zusammenarbeiteten. Aber auch, weil Feinde sich nicht trauten, sie anzugreifen. Die USA sind mit Abstand die größte Militärmacht der Welt, die Nato die stärkste Militärallianz. Fast alle westlichen Staaten sind Mitglieder des Bündnisses. Wobei auch die Türkei der Nato angehört, die nicht als westlicher Staat gewertet werden kann. Die Stärke der Nato, ihre Abschreckungsfähigkeit, gründet auf dem Artikel 5 ihres Vertrags: Wird ein Mitglied angegriffen, stehen ihm alle zur Seite. Ein Angriff auf das Baltikum bedeutet einen Angriff auf Washington. So die Idee. Aber was passiert, wenn der Präsident des stärksten Mitglieds das Bündnis infrage stellt, es „obsolet“ nennt?

1 Donald Trump, 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika
Einer der Präsidenten eines großen Landes fragte: „Sir, wenn wir nicht zahlen und von Russland angegriffen werden, werden Sie uns verteidigen?“ Ich sagte: „Sie haben nicht gezahlt, Sie sind Straftäter? Nein, ich werde Sie nicht beschützen. Ich würde Russland sogar dazu ermutigen, das zu tun, was zur Hölle es auch machen möchte. Zahlen Sie Ihre Rechnungen.“ Und das Geld sprudelte nur so herein.“

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Donald Trump erzählt hier von einem angeblichen Nato-Gipfel. Ob die Begegnung tatsächlich so stattgefunden hat, spielt hier gar keine Rolle. Trump stellte ab Frühjahr 2017 an die Nato vor große Herausforderungen, drohte sich aus dem Bündnis zurückzuziehen, wenn Länder wie Deutschland nicht - wie eigentlich zugesagt – zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben. Ende 2019, als es auch noch Streit zwischen Frankreich und der Türkei gab, diagnostizierte der französische Präsident Macron den „Hirntod“ der Allianz. Dabei ist die Nato für viele europäische Länder die wichtigste Sicherheitsgarantie, der Schild vor einem möglichen russischen Einmarsch, sagt Anne Applebaum, Kolumnistin beim amerikanischen Magazin „The Atlantic“:

2 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Menschen wie Trump könnten dieser Praxis ein Ende setzen und zwar wesentlich schneller, als viele denken. Natürlich gibt es einen Vertrag und Verpflichtungen, aber allein, wenn man sagt: ‚Ich, der Präsident, werde Polen nicht verteidigen, wenn es angegriffen wird‘, eröffnet er den Russen die Möglichkeit, es zu tun. Das ist meiner Meinung die größte Gefahr für den Westen.

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Donald Trump wurde nun erneut zum Präsidenten gewählt. Und er wird mit großer Wahrscheinlichkeit auch wieder mächtig Staub aufwirbeln. Die Republikaner wollen nicht mehr, wie unter George W. Bush, den Weltpolizisten spielen, sondern sich auf die USA zurückbesinnen. Isolationismus ist das Schlagwort. Aber auch die Demokraten fordern die Europäer dazu auf, eigenständiger, souveräner zu werden, dass sie sich mehr um ihre eigene Sicherheit kümmern sollen. Der Pazifik verlangt mehr Aufmerksamkeit, vor allem der Systemrivale China. Die Welt von morgen wird anders aussehen als die von heute, ist der französische Politikwissenschaftler Bertrand Badie überzeugt. Und ohnehin, meint Badie, zwinge die Globalisierung die westlichen Länder, sich von den Logiken der Nachkriegsordnung zu verabschieden und den Ländern des Globalen Südens - China, Indien, Südafrika, Brasilien und vielen mehr - auf Augenhöhe zu begegnen:

3 Bertrand Badie, emeritierter Professor für int. Beziehungen Sciences Po Paris
Wie all diese aufstrebenden Länder müssen wir im Westen lernen, uns von dem Begriff Allianz zu verabschieden, der altmodisch und auch gefährlich ist, weil er andere ausschließt: Die NATO ist das wichtigste Militärbündnis, das es in der Welt gibt. Das Ergebnis ist, dass sie von allen, die außerhalb stehen, als etwas bezeichnet wird, das sich nur um sich selbst kümmert und eine ständige Bedrohung darstellt. Russland nutzt das böswillig aus. Aber die Länder des Südens verstehen die Sprache Putins, weil sie sehen, dass die alten europäischen Mächte weiterhin dieses aggressive Eigenleben pflegen, das sich in einem Militärbündnis ausdrückt. Daher muss das Wort Bündnis durch Partnerschaft ersetzt werden.

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Die Kommunistische Partei in China, sagt Bertrand Badie, schließe niemals Allianzen, weigere sich sogar den Begriff in den Mund zu nehmen. In anderen Teilen der Welt besiegeln Länder zwar Handelszonen, verzichten aber meist auf Allianzen, die andere ausschließen. Getreu einem alten Zitat, das Charles de Gaulle während des Zweiten Weltkriegs zugeschrieben wird: „Staaten haben keine Freunde, nur Interessen.“ Derselbe de Gaulle unterzeichnete zwei Jahrzehnte später den deutsch-französischen Freundschaftsvertrag. Doch welche Vorteile sollen losere Partnerschaften im Verhältnis zu Allianzen bieten? Bertrand Badie:

4 Bertrand Badie, emeritierter Professor für int. Beziehungen Sciences Po Paris
Partnerschaften mit jedermann zu entwickeln, bedeutet nicht, sie zu heiraten. Es ist wie mit der freien Liebe im privaten Bereich. Je nach Umständen wechseln Sie den Partner, was die Grundlage für ein neues Gleichgewicht in der Welt schaffen könnte. In einer globalisierten Welt akzeptiert jeder, mit jedem zu arbeiten. Gerade befinden wir uns noch in einer Welt der Vertikalität.

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In der internationalen Staatengemeinschaft, meint Bertrand Badie, gebe es immer noch zu große Ungleichheiten. Früher redete man in westlichen Staaten noch häufiger über die Erste, Zweite und Dritte Welt, was viele als abfällig empfanden. Diese Ungleichbehandlung, meint Badie, ist in der Architektur der Nachkriegsordnung angelegt. Auffällig sei sie bei den Vereinten Nationen. Zwar sollen diese für Austausch und Interessensausgleich sorgen, doch gibt es immer Ungleichgewichte. Von den fünf permanenten Mitgliedern des Sicherheitsrates mit Veto-Recht sind drei westlich: die USA, das Vereinigte Königreich und Frankreich. Der Soziologe Stephan Lessenich denkt, wenn westliche Staaten sich nicht darum bemühen, anderen Teilen der Welt mehr auf Augenhöhe zu begegnen, werde der Westen automatisch unbedeutender. Internationale Organisationen müssten demokratisiert werden, fordert Lessenich, auch, wenn das dann massive Konsequenzen für den „alten Westen“ hätte:

5 Stephan Lessenich, Professor Soziologie Uni Frankfurt
Das würde ja auch da heißen "One Man, One vote" - dass man das abbildet. Die Struktur der Weltgesellschaft in eine Institutionordnung, in der natürlich dann der Westen peripherisiert wird oder provinzialisiert wird, das wäre die Folge davon. Dass der Westen dann nicht mehr, keine Ahnung, 50, 40, 30% Stimmanteile hat, sondern eben deutlich weniger.

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In der Welt von morgen, sind Badie und Lessenich überzeugt, sollten westliche Staaten also nicht mehr tonangebend sein, sondern eine von vielen gleichberechtigten Parteien. Beharren sie weiter auf der alten Logik, fachen sie nur die Abneigung an, die ihnen jetzt schon entgegengebracht wird. Auf lange Sicht ein gefährliches Szenario, das den Wohlstand des Westens erst recht gefährden könnte.

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Aber wie sieht eine gerechtere, eine partnerschaftliche Welt aus? Sollte jedes Land, egal wie groß es ist, eine Stimme haben? Ginge es danach, hätten drei Viertel der Staatengemeinschaft den russischen Großangriff am 24. Februar 2022 auf die Ukraine verurteilt. ((Ähnlich deutlich wäre das Ergebnis, ginge es nach der wirtschaftlichen Stärke der Länder.)) Nehmen wir aber die Größe der Bevölkerungen, so wäre die Sache nicht mehr eindeutig. Länder wie China, Indien, Vietnam, Südafrika, Pakistan und Iran enthielten sich. Zählt man die Staaten dazu, die bei der Abstimmung abwesend waren, haben die Vertreter von 4,6 Milliarden Menschen der Resolution ES-11/1 nicht zugestimmt. Das ist mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung. Das heißt nicht, dass diese Staaten Russlands Einmarsch ausdrücklich befürworten würden. Aber sie haben eben nicht öffentlich verurteilt. Jedenfalls zeigt diese Zahl: Der Westen ist nicht die Welt. Dass gehandelt werden muss, darüber sind sich eigentlich alle einig. Aber wie kann eine neue Weltordnung aussehen? Erwartungsgemäß liegt die Antwort nicht leicht auf der Hand: So hat unter deutsch-namibischer Führung die Vollversammlung der Vereinten Nationen Ende September den sogenannten Zukunftspakt angenommen. Sicherheitsrat und globale Finanzarchitektur sollen reguliert werden, damit Länder des Globalen Südens leichter an Kredite kommen. Klingt vage, für Kritiker ist es der kleinste gemeinsame Nenner. Doch selbst gegen diesen stimmte Russland. Es hat schon mehrere Initiativen gegeben, den Einfluss von nicht-westlichen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen zu steigern. Sogar angetrieben vom Westen, berichtet Thomas Gomart von der Pariser Denkfabrik Ifri. Doch diese Vorstöße scheiterten häufig an den aufstrebenden Ländern selbst - im folgenden Beispiel an China:

Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris
Frankreich befürwortet als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats, dass dieser um vier Länder erweitert wird. Nur ist es nach Ansicht von China inakzeptabel, dass Indien oder Japan in den Sicherheitsrat aufgenommen werden.

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Trotzdem wird China in den Ländern des Globalen Südens oft als fairerer und besserer Partner wahrgenommen als die USA oder ehemalige Kolonialmächte wie Frankreich und das Vereinigte Königreich. China wirbt damit, dass es einst von denselben Ländern unterworfen wurde wie Staaten im Nahen Osten oder in Afrika. China investiert. Zugstrecken, Staudämme, Flughäfen, Raffinerien, ja sogar Fußballstadien baut es in Afrika. Inzwischen hat Peking die USA und Frankreich als ersten Handelspartner des Kontinents abgelöst. 170 Milliarden Dollar beträgt das Volumen. Dafür sichert sich China wichtige Rohstoffe, die es braucht, um zum Beispiel Elektroautos zu bauen. Wir sind wieder bei dem Punkt angekommen, den wir schon in der zweiten Folge angerissen haben. Das Zitat der aus Nigeria stammenden Generaldirektorin der Welthandelsorganisation WTO, Ngozi Okonjo-Iweala: „Wenn wir mit China reden, bekommen wir einen Flughafen. Reden wir mit Deutschland, einen Vortrag.“ Der nigerianische Politikwissenschaftler Abubakar Umar Kari fordert, der Westen müsse sein Verhältnis mit den ehemaligen Kolonien auf neue Füße stellen:

7 Abubakar Umar Kari, Professor Politikwissenschaften Uni
Und zwar durch Kooperationen und Partnerschaften, die für beide Seiten vorteilhaft sind, und kein einseitiges, parasitäres Verhältnis, das die Beziehungen in der Vergangenheit geprägt hat.

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In dieser Forderung schwingen zwei Vorwürfe mit: Der erste lautet, selbst Jahrzehnte nach dem Kolonialismus beute der Westen weiterhin den Kontinent aus. Aber afrikanischen Staatschefs und Intellektuellen geht es auch um die Werte, die der Westen proklamiert. Hilfen würden zurückgehalten, dringend benötigte Infrastrukturprojekte auf Eis gelegt, wenn westliche Staaten Defizite bei Rechtsstaat und Demokratie feststellten. Dabei, wenden Kritiker wie Abubakar Umar Kari ein, seien diese Werte von Nordamerikanern und Europäern. Denkt man diesen Vorwurf zu Ende, bedeutet das, dass zum Beispiel die Menschenrechte nicht universell sind und damit nicht für alle Menschen gelten würden. Dem widerspricht Thomas Gomart entschieden. Niemand werde gerne gefoltert, Punkt. Nur weil eine kleine Gruppe diese Werte erfand, ändere das nichts an ihrer Allgemeingültigkeit, so der Franzose. Trotzdem tut sich der Westen schwer, diese Werte einzufordern. Der Historiker Heinrich August Winkler:

8 Heinrich August Winkler, Historiker
Die westlichen Demokratien können ihre Werte niemandem aufzwingen, sie können aber immer für die unveräußerlichen Menschenrechte werben und sich für ihre weltweite Einhaltung einsetzen. Glaubwürdig wirkt das Engagement für die westlichen Werte freilich nur, wenn sich die Demokratien des Westens selbst an ihre Werte halten und selbstkritisch mit ihren Verstößen dagegen ins Gericht gehen. Die westlichen Demokratien dürfen nie mehr versprechen, als sie halten können.

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Nur wer seine eigenen Werte einhält, kann anderen vorwerfen, sich nicht an diese zu halten. Dafür ist entscheidend, dass westliche Länder afrikanische, südamerikanische oder asiatische nicht von oben herab behandeln. Allerdings müssen westliche Staaten auch lernen, mit Parteien umzugehen, die sich selbst häufig widersprechen, wenn es ihrer Erzählung passt, sagt der französische Historiker Thomas Gomart. Auf der einen Seite fordern nämlich Staaten des Globalen Südens, der Westen solle sich zurückhalten, dem Rest der Welt mehr Raum einräumen. Er habe viele Krisen auf der Welt zu verantworten, in Afrika, in Südamerika, im Nahen und Mittleren Osten. Der Interventionismus westlicher Staaten habe Weltregionen in Kriege und Krisen gestürzt. Gleichzeitig aber beklagen sich oft dieselben Länder, wenn der Westen sich in geopolitischen Fragen zurückhält. Ob im Nahostkonflikt, in Syrien, Jemen oder im Sahel: Wenn sich der Westen nicht einschaltet, scheint es genauso falsch zu sein, wie wenn er es tut.

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Der Westen muss neue Logiken aufbauen, meint Thomas Gomart. Er muss aber auch die an Konflikten beteiligten Parteien dazu ermuntern, selbst Lösungen zu finden. Seine eigenen Allianzen dagegen über Bord zu werfen, davon rät der französische Historiker ab. Brasilien, einige afrikanische Staaten, aber auch Indien verfolgen laut Gomart einen transaktionalen Ansatz. Sie schließen keine Allianzen, sondern machen Geschäfte mit allen. Indien zum Beispiel kauft französische Kampfflugzeuge, verurteilt jedoch nicht den russischen Einmarsch in der Ukraine. Klingt rational, birgt aber Risiken, meint Gomart – speziell für Deutschland.

9 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris
Dieser Ansatz breitet sich zwar aus, er hat aber auch Grenzen. Und das sieht man speziell beim Thema Sicherheit in Europa. Die meisten Mitgliedsstaaten sind angewiesen auf die Sicherheit, die ihnen die EU und die Nato bieten. Das trifft ganz besonders auf Deutschland zu. Deutschlands Sicherheit hängt von der Nato ab.

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Man kann, man muss mit allen reden und in einer multipolaren Welt Beziehungen zu allen pflegen. Doch geht es um das Überleben des Staates und seiner Bürger, sei es wichtig, sein Lager nicht zu verlassen, meint Thomas Gomart. Sicherheit beschränkt sich dabei nicht allein auf einen militärischen Angriff eines feindlichen Staates. Es geht auch darum, dass jeder einzelne Staat seine Bürgerinnen und Bürger bestmöglich vor Risken und Gefahren schützen und Ängste ernst nehmen soll. In westlichen Ländern werden dabei häufig Debatten über Zuwanderung geführt. Ein großes Thema: Die Sorge vor einer Veränderung, gar Gefährdung der westlichen Kultur durch Migration von Menschen, die mit anderen als westlichen Werten aufgewachsen sind. Vor allem aus patriarchalisch geprägten islamischen Kulturen. Einige politische Kräfte, nicht nur extremistische, kritisieren zuviel Einwanderung. Diese gehe mit hörerer Kriminalität einher und verändere die Gesellschaften zum Schlechteren. Erfolgsgeschichten, die es auch im großen Stil gibt, werden dabei meistens unterschlagen.

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Tatsache ist, dass der Anteil an Zuwanderern an der Gesamtbevölkerung wesentlich höher ist als in anderen Teilen der Welt. So sei in Europa, so die Internationale Organisation für Migration, fast jeder Achte zugewandert, lebe also in einem Land, in dem sie oder er nicht geboren wurde. Binnenflüchtlinge zählen also nicht mit rein, deshalb ist die Zahl in Asien und Afrika sehr gering; nicht einmal zwei Prozent.
Mehr als 50 Millionen Migranten leben in den USA, viele kamen aus Lateinamerika.

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Politikerinnen und Politiker in westlichen Ländern wie Donald Trump, Viktor Orban und Marine Le Pen, beschreibt Anne Applebaum, bedienen sich der Ängste vieler Menschen vor Zuwanderung und Veränderungen. Sie trügen eine nationalistische Erzählung vor, sagt die Kolumnistin und Historikerin. In einer Zeit des schnellen Wandels versprechen sie die Rückkehr in eine Vergangenheit, in der alles gut gewesen sein soll:

10 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Es ist kein Zufall, dass viele politische Bewegungen nicht über die Zukunft sprechen, sondern in die Vergangenheit blicken. Make America great again ist ein Paradebeispiel dafür. Diese Politiker bedienen Nostalgie und sprechen von Revivals/Wiederaufleben. Das ist die Auswirkung eines sehr, sehr schnellen sozialen, politischen, demografischen und wirtschaftlichen Wandels.

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Der alte und neue Präsident Donald Trump versprach seinen Landsleuten im Wahlkampf, sich wieder auf sie zu besinnen. America first, les Francais d’abord, Deutschland zuerst. Diese Erzählung hat in vielen westlichen Staaten mal mehr, mal weniger Erfolg. Ein großes Problem unserer derzeitigen politischen Debatten im Westen, meint Applebaum, sei es, dass viele den innenpolitischen Wettstreit mit kriegsähnlichen Zuständen gleichsetzten. Es gehe um Gut gegen Böse, den Untergang des Abendlandes, das Ende der Zivilisation:

11 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin
Und genau hier wird es gefährlich, denn Politiker können Identitäten nicht ändern, sondern sich nur darüber aufregen. Wir sollten uns dafür stark machen, dass sich die Politik um Probleme kümmert, die sie lösen kann. Das Gesundheits- und das Bildungssystem, Straßen und Schulen. Wenn Sie es schaffen, die Debatte dorthin zurückzubringen, bekommen Sie eine normalere Politik.

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Egal ob in den USA, Frankreich oder Polen: Politik müsse wieder normaler werden, sich auf wesentliche Politikfelder konzentrieren, fordert die Historikerin, die 2024 mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet wurde.

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Die Welt setzt sich neu zusammen – und wo ist unser Platz? Der Platz des Westens? Von Gesellschaften, die in den vergangenen Jahrhunderten entscheidend dazu beitrugen, dass die Welt auf verschiedene Weisen revolutioniert wurde. Sei es gesellschaftlich oder auch technologisch. Vielleicht ist an dieser Stelle, so kurz vor dem Ende dieser dreiteiligen Serie, die Zeit für eine Zusammenfassung gekommen. In der ersten Folge ging es um die Grundpfeiler des Westens, warum Menschen aus westlichen Ländern nicht „normal“, sondern „seltsam“ sind, wie der Harvard-Anthropologe Joseph Henrich sagt:

12 Joseph Henrich, Humanbiologe Universität Harvard
In einigen Regionen der Welt ist besonders wichtig, wie man sich anderen gegenüber präsentiert. Es geht darum, das Gesicht zu wahren, darum wie ein Netzwerk von Personen über Sie als Individuum denkt. (…) In westlichen Gesellschaften müssen Sie sich dagegen abheben und von anderen unterscheiden, um erfolgreich zu sein.

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Es ging außerdem um Gewaltenteilung, um Checks and Balances, um Vertrauen in unabhängige Institutionen. Die zweite Folge handelte davon, warum andere Teile der Welt Kritik am Westen üben. Besonders prägnant fasste das Sadiq Abba zusammen, der nigerianische Professor für Internationale Beziehungen:

13 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja
Unsere Wahrnehmung der westlichen Welt ist die eines bösen Imperiums, das nur für sich selbst da ist. Wenn du ihre Spiele, ihre Regeln mitspielst, bleibst du für immer ein Gefangener und ein Untertan, der ausgebeutet und enteignet wird.

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Es ging um die Vorwürfe, die den westlichen Staaten gemacht werden. Dass sie auf der einen Seite versprechen, jeder Mensch habe dieselben Rechte und eine unveräußerliche Würde. Andererseits hatten und haben viele Entwicklungsländer den Eindruck, westliche Leben seien mehr wert als die von sagen wir Venezolanern, Maliern oder Palästinensern.
Es ging um die Ambitionen der BRICS-Staaten, insbesondere Chinas, eine neue Weltordnung aufzubauen, in der dem Westen eine kleinere Rolle zukommen soll. Und natürlich ging es auch um die Bedrohungen des westlichen Projekts aus dem Inneren: Wie stark werden Demokratie, Rechtsstaat und internationale Zusammenarbeit von Autokraten bedroht, die durch Wahlen an die Macht kamen – oder kommen könnten?

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Jahrhundertelang hat der Westen die globale Wirtschaft dominiert. Der Westen hat andere Teile der Welt unterworfen und ausgebeutet, Grenzen gezogen, die bis heute Krieg und Zerstörung nach sich ziehen. Man nehme nur den Nahen Osten mit den Grenzziehungen der Siegermächte nach dem Ersten Weltkrieg. Das kapitalistische Wirtschaftssystem und der Energiehunger der Menschen fördern einen solchen Raubbau an der Erde, dass wir inzwischen fast zwei brauchen, um unseren Wohlstand aufrechtzuerhalten. Aber der Westen brachte auch große Errungenschaften hervor: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. In Europa wurden aus Erbfeinden Freunde, Frieden wurde geschlossen, internationale Zusammenarbeit gefördert, es entstand technologischer Fortschritt, wie es ihn noch nie zuvor gegeben hatte.

Im Laufe der Jahrtausende gab es immer wieder Zivilisationen, die einen Vorsprung hatten und ihn einbüßten, gar verschwanden. Die alten Ägypter, Griechen und Römer, das Osmanische Reich oder China etwa, das heute seinen alten Platz für sich beansprucht. Wird es dem Westen ähnlich ergehen, dessen Bevölkerung immer kleiner und älter wird? In Deutschland hat sich wahrscheinlich niemand so intensiv mit dieser Frage auseinandergesetzt wie der Historiker Heinrich August Winkler. Und so ist es für mich nur logisch, dass ich ihm das letzte Wort lasse:
14 Heinrich August Winkler, Historiker
Der Westen hat seine weltpolitische und weltwirtschaftliche Dominanz längst verloren, aber die Anziehungskraft der Ideen von 1776 und 1789, also der Ideen der Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der repräsentativen Demokratie - diese Anziehungskraft hält unvermindert weltweit an.

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Ich bin Jean-Marie Magro, und das war „Der Westen“.
Mit der dritten und letzten Folge: Was kann aus ihm werden?

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