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STEINZEIT UND DANACH - „Ackern“ und Gewalt in der Jungsteinzeit

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In der Jungsteinzeit, dem Neolithikum, haben die Menschen das Überlebensprinzip "Arbeit" erfunden. Bislang lebten Jäger und Sammler von der Hand in den Mund, doch die ersten Bauern und Viehzüchter mussten das Ackerland pflügen, Unmengen Unkraut jäten und Tiere hüten. Sie wurden Bauern, sesshaft, innovativ - und offenbar auch gewalttätiger, als sie es bis dahin waren. Von Matthias Hennies (BR 2019) Hier der Link zur Umfrage für die ARD Audiothek: https://1.ard.de/umfrage-alles-geschichte- Für alle anderen Podcast-Plattformen: Bitte nutzt den Link in den Shownotes.

HIER GEHT ES DIREKT ZUR UMFRAGE

Credits
Autor: Matthias Hennies
Regie: Martin Trauner
Sprecher: Thomas Birnstiel
Technik: Christian Schimmöller
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Dr. Martin Hinz, Dr. Helmut Schlichtherle, Manuela Fischer, Margarethe Schweikle, Prof. Thomas Saile, Dr. Heiner Schwarzberg
Linktipps:
ZDF (2019): Tatort Steinzeit
Immer wieder stoßen Forscher auf die Spuren von Gewalt, die in diesem Ausmaß aus früheren Epochen unbekannt sind. Wer waren die Opfer und wer die Täter? JETZT ANSEHEN
SWR (2018): Archäologie erleben – Akte Jungsteinzeit
Wieso wurden vor 7.500 Jahren die Menschen im Südwesten sesshaft? Dank neuer wissenschaftlicher Methoden können Archäologen endlich Rätsel aus unserer Geschichte lösen. JETZT ANSEHEN

Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?
DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.
Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.
Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ATMO (Gespräch & Knistern)
Planen drüber! Ist das Timing, Baby? Eine Minute, dann geht’s los hier! Dann geht das richtig los. Blende, unterlegen.
Sprecher
Dunkle Wolken ziehen auf, der Wind schüttelt die Kronen der alten Buchen und die Archäologen legen die Schaufeln beiseite. Wenige Kilometer von der Ostseeküste entfernt, in einem Wald bei Wangels in Holstein, untersuchen sie ein Großsteingrab aus der Jungsteinzeit. Rund um die riesigen Findlinge, die den Bestattungsplatz der frühen Bauern markieren, tragen sie Zentimeter für Zentimeter die Erde ab. Doch nun droht der nächste Regenguss und sie müssen die Ausgrabung mit einer dicken Plane zudecken.

ATMO (Gespräche & Knistern)
Muss da noch höher, das regnet sonst rein!

MUSIK

Sprecher
Nach dem Schauer tupfen die Forscher, großenteils Studenten von der Universität Kiel, mit Schwämmen das Regenwasser aus der Grabungsfläche. In einem großen Forschungsprojekt zum Neolithikum, der Epoche der ersten Bauern, suchen sie nach einer Erklärung für den Boom der Megalithbauten: In Norddeutschland haben sich ab 4000 vor Christus die Ackerbauern und Viehzüchter durchgesetzt. Nur wenige Menschen zogen noch als Jäger und Sammler umher, die meisten hatten sich an einem festen Ort niedergelassen, ernteten Getreide und Hülsenfrüchte, züchteten Rinder, Pferde und Schweine. Um 3600 vor Christus begannen die Bauern dann, für ihre Toten mächtige Grabhügel aus schweren Steinbrocken aufzutürmen. Aber warum? Das muss die Archäologie noch klären. Am Grab bei Wangels allerdings ist es im Augenblick zu nass zum Ausgraben.

ATMO (Gespräche & Plätschern)
Hier kannst du noch näher an die Steine ran, oh ja.

Sprecher
Ihre geräumigen Langhäuser bauten die frühen Bauern aus Holz und Lehm, berichtet Martin Hinz, der Grabungsleiter, doch die Gräber errichteten sie aus Stein. Darin zeigt sich, welche Bedeutung sie ihren Vorfahren zumaßen: Die steinernen Wohnstätten der Toten waren dauerhaft, die hölzernen Bauten für die Lebenden aber vergänglich. Die Leute wussten genau, wie man mit Stein baut: Die Lücken zwischen den mächtigen, unförmigen Findlingen haben sie sorgsam mit Trockenmauerwerk gefüllt, so dass geschlossene Wände entstanden. Der Eingang blieb offen, denn die Bauten wurden in der Regel mehrere Generationen lang genutzt. Im Volksmund Norddeutschlands heißen sie wegen ihrer Größe "Hünengräber", doch die Forschung hat gezeigt:

2. O-Ton Hinz XIV 099-033, 31'23
Dass hier kein ausgewählter Personenkreis bestattet worden ist. Wir haben Kinder, Frauen, Männer, daher ist anzunehmen, dass es wirklich ein Bestattungsort war für jedermann, keine expliziten Häuptlingsgräber, wie man das früher immer noch gedacht hat.

Sprecher
Um aus tonnenschweren Findlingen einen Grabbau zu errichten, mussten alle Bewohner eines Dorfes anpacken – und später setzten alle ihre Toten darin bei. Niemand stach aus der Gemeinschaft heraus: Weder im Tod durch ein Einzelgrab oder kostbare Beigaben, noch im Leben durch ein riesiges Haus oder prunkvollen Besitz. Die frühen Bauern lebten einige Jahrhunderte lang in einer weitgehend egalitären Gesellschaft. Mit den gemeinschaftlich errichteten Grabbauten dokumentierten sie ihre Zusammengehörigkeit. Zugleich markierten sie damit ihren Grund und Boden, erklärt Dr. Hinz:

3. O-Ton Hinz XIV 099-033, 35'52
Das ist sicher nicht losgelöst davon, dass Land jetzt eine ganz andere Qualität bekommt, es wird eine Ressource, man investiert in das Land, man muss den Acker roden, man muss Arbeit hinein investieren und da kommt sicher auch ein anderes Bewusstsein auf für Landschaft.

Sprecher
Die mobilen Jäger- und Sammler-Gruppen waren immer dorthin gezogen, wo die Natur ihnen gerade die besten Ressourcen bot. Die Bauern aber siedelten sich an einem Ort an und entwickelten eine engere Beziehung zum Land, ihrer Lebengrundlage: Sie nahmen es dauerhaft in Besitz, deshalb errichteten sie ihre steinernen Gemeinschaftsgräber darauf. Die Bauten demonstrieren das neue Bewusstsein für Dauer und Besitz, das sich in der Jungsteinzeit entwickelte. In Süddeutschland dagegen, da, wo die Gletscher der Eiszeit keine Findlinge abgelagert haben, entwickelten die Menschen des Neolithikums andere Bräuche, um ihre Ahnen zu ehren und sich ihrer Zusammengehörigkeit zu vergewissern. Dort ließen sich die ersten Bauern um 5500 vor Christus nieder, etwa ab 3800 entstanden Pfahlbauten an den Seeufern des Voralpenlandes. Die Pfahlbauten bieten den Archäologen die besten Forschungsmöglichkeiten, weil Holz und Lehm, Textilien und Pflanzenreste im feuchten Boden, abgeschlossen vom Sauerstoff, Jahrtausende überdauern können.

ATMO (Schritte)

Sprecher
Zentrum der Pfahlbau-Forschung ist das Amt für Denkmalpflege in Hemmenhofen am Bodensee, Dr. Helmut Schlichtherle hat es lange geleitet. Er kann ein einzigartiges Beispiel für den jungsteinzeitlichen Ahnenkult zeigen, das kürzlich aufwändig rekonstruiert wurde. In Ludwigshafen am Bodensee, ausgerechnet im Strandbad, waren Bruchstücke von der lehmverputzten Wand eines neolithischen Hauses zutage gekommen – einer Wand, die großflächig mit Malereien bedeckt war.

5. O-Ton Schlichtherle OT 12, 9'02
Die Badegäste standen mehrere Sommer schon in diesen Malereifragmenten, die durch die Wellen freigelegt worden sind und wir waren dann mit unseren Tauchern dort und haben vor allem das geborgen, was im Seegrund noch zugedeckt war-

Sprecher
Ergebnis war ein Puzzle von weit über 1.000 Teilen, das dann in die Labors der Denkmalpflege wanderte. Dort hat Schlichtherle die Lehmbruchstücke mit seinen Mitarbeiterinnen Margarethe Schweikle und Manuela Fischer in mühsamer Kleinarbeit nach und nach zusammengesetzt.

6. O-Ton Schweikle OT 12, 11'16
Das lag dann hier jahrelang rum, oder? Gelächter. Schon ein paar Jahre. Und ich hab quasi dann die Einzelscherben rausgeholt und dann geklebt, das kann man jetzt auch in die Hand nehmen, hier dran sieht man die Schultern und das Händchen, also das ist ein ganz wichtiges Stück-

O-Ton Fischer OT 12
Hier hinter Ihnen in diesem Regal sind, ich weiß nicht, wie viele Kisten, über hundert, da liegen immer noch sehr viele Stücke drin. Die wo wir zuordnen konnten, das sind diese bemalten Hüttenlehmstücke, haben wir den Frauen zugeordnet, aber ansonsten gibt es in diesem Chaos noch sehr viele Stücke, die teils keine Bemalung haben, einfach nur aus der Wand rausgebrochen sind, ohne Hinweis, die können wir gar nicht zuordnen, das liegt alles noch in diesen Kisten.

Sprecher
Das mehrere Meter lange Fresko zeigt sieben fast lebensgroße, stilisierte Frauengestalten, mit weißer Farbe auf die braune Wand gemalt. Ihre Brüste stehen plastisch, aus Lehm geformt, aus der Wand hervor, ihre Arme dagegen sind nur angedeutet, die Beine gar nicht dargestellt. Bei vier Gestalten ist der Kopf wiedergegeben, mit einem auffälligen Kranz von Haaren oder Strahlen darum herum.

Schlichtherle interessiert sich besonders für die abstrahierten Figuren zwischen den Frauengestalten: Strichmännchen mit ausgebreiteten Armen oder Beinen: Zu neun, zehn, elf übereinandergestapelt, ergeben sie ein Muster, das an einen Baum erinnert – einen Lebensbaum, nennt es der Archäologe. Er deutet die Abfolge von Strichmännchen als eine Ahnenreihe, die Generation um Generation in die Vergangenheit zurückführt. Den Schlüssel zu dieser Interpretation liefern ihm Verzierungen auf neolithischen Keramikgefäßen.

7. O-Ton Schlichtherle OT 12, 24'25
Auf diesen Gefäßen gibt es wieder diese Lebensbäume, in denen wir die Ahnenreihen sehen können. Gleichzeitig sehen wir, dass es hier sonnenartige Knubben und Ösen auf den Gefäßen gibt, die ganz stark erinnern an die sonnenartigen Köpfe der weiblichen Gestalten.
Und in einem Fall ist auch klar, dass die weiblichen Gestalten mit ihren sonnenartigen Köpfen über den Ahnenreihen sitzen.

Sprecher
Die Ahnenreihen führen demnach zurück zu den großen Frauengestalten: Sie sind die weiblichen Urahnen der verschiedenen Sippen im Dorf. Nicht zu verwechseln mit der Muttergottheit oder Urmutter, die man lange in der Glaubenswelt der Steinzeitkulturen finden wollte. Die Wand spiegelt also vermutlich die Genealogie der Dorfgemeinschaft. Anhand der Malerei vergewisserte sich das Dorf seiner Identität. Diese Deutung deckt sich mit einer Erkenntnis der Ethnologie: Kulturen, die keine Schrift haben, definieren sich häufig durch detailliertes, sorgsam memoriertes Wissen über ihre Ahnenreihen. Dass der Ahnenkult in der geistigen Welt des Neolithikums eine zentrale Rolle spielte, weiß man seit langem. Doch nirgends ist bisher eine so subtile Ikonographie aufgetaucht wie auf der Kultwand von Ludwigshafen am Bodensee. Und sie scheint direkt aus dem Leben gegriffen: Kein spektakulärer Großbau, kein überregionales Kultzentrum, sondern ein alltäglicher Gegenstand, den es vermutlich in jedem Dorf gab - wie der Altar der Pfarrkirche, vor dem sich die Kinder zur Kommunion versammeln.

9. O-Ton Schlichtherle OT 13, 8'18
Ich könnte mir gut vorstellen, dass vor dieser Wand, in diesem Innenraum, Initiationsfeiern stattfanden, dass über diese Gestalten gesprochen wurde, dass die Mythen repliziert und immer wieder wiederholt wurden. Eine schriftlose Kultur lebt von der Wiederholung solcher Geschichten und auch diese Wand ist eine Verbildlichung von Inhalten, das ist der Überbau dieser Gesellschaft, der hier eine Bildform gekriegt hat. Sowas hat es sicher häufig gegeben, wir haben die einmalige Chance gehabt, es mal zu finden.

Sprecher
Nicht dass Schlichtherle Mangel an eindrucksvollen Funden hätte: Da ist auch das Modell der Steinzeit-Siedlung Torwiesen, die am Rand des Federsees in Oberschwaben nahezu komplett geborgen werden konnte. Als die Menschen den Ort um 3300 vor Christus verlassen hatten, wuchs Torf über die Häuser und Bohlenwege: Stützpfähle, Fußböden, auch eingestürzte Wände blieben erhalten – darüber hinaus die Reste der Pflanzen, die hier in der Jungsteinzeit verzehrt oder verarbeitet wurden, tote Insekten und zerrissene Fischernetze.

4. O-Ton Schlichtherle
(Innen, Schritte) Ich mache mal die Tür zu, da sind oft Geräusche. (Klappert)

Sprecher
Helmut Schlichtherle hat das Dorf auf einer Sperrholzplatte im kleinen Maßstab nachbauen lassen: 15 Häuser, rechts und links eines soliden Bohlenweges aufgereiht, alle aus Holzstäbchen und Bastfäden, ein bisschen größer als die Gebäude einer Modelleisenbahn. Darunter liegt, grauschwarz angestrichen, das vertorfte Ufer aus Pappmaschee. Alle Häuser bis auf drei wirken gleich groß und stehen parallel nebeneinander, die Giebel zur zentralen Dorfstraße ausgerichtet. Vor jedem Eingang liegt ein Dreschplatz – doch der erste Eindruck täuscht: "Torwiesen" war kein egalitäres Dorf.

12. O-Ton Schlichtherle OT 9, 9'56
Wenn wir etwas genauer hingucken, sehen wir, dass die Häuser im Dorf von vorn nach hinten kleiner werden. Das erste Haus hier ist am längsten und gehen wir die Dorfstraße entlang bis zum letzten, dann ist das nur noch halb so groß.

Sprecher
Dasselbe Muster zeigte sich, als die Archäologen die Verteilung der Kleinfunde analysierten: Die ersten, größten Häuser waren gut mit Getreide und anderen Kulturpflanzen versorgt, in den letzten Häusern dagegen fanden sich nur wenige Dreschreste, dort brachte der Feldbau offensichtlich nur geringe Erträge. Und dann sind da noch drei winzige Häuser hinter und zwischen die geräumigen Bauten der Landwirte gequetscht: Die Grundfläche reichte gerade aus, dass sich zwei Personen abends auf dem Boden ausstrecken konnten.

14. O-Ton Schlichtherle OT 9, 17'12
Das könnte tatsächlich eine andere Schicht sein. Wir wissen, dass in den kleinen Häuschen spezielle Dinge gemacht worden sind: In diesen beiden saßen Bogenbauer, wir wissen, dass in zwei der kleinen Häuser Fischereigerät war, das ist auch eine Ausnahme in der Siedlung, und dann wissen wir, dass Sammeltätigkeit eine große Rolle spielt: Also nicht landwirtschaftliche Produkte, sondern in der Natur gesammelte Produkte und teilweise sogar Samen von Ackerunkräutern, die in großer Menge eingesammelt wurden. Also die Kleinhäusler hatten das Recht, auf den Feldern der Großbauern die Unkräuter einzusammeln und zu verwerten.

Sprecher
Das Ende der egalitären jungsteinzeitlichen Gesellschaft hatten Forscher bisher nur an neuen Bestattungssitten erkannt: Anstelle gemeinschaftlicher Grabstätten wie den Megalithbauten begannen die Menschen, Einzelgräber anzulegen, offenkundig für Anführer oder Häuptlinge. Jetzt aber zeigen die kleinteiligen Funde aus Torwiesen sehr anschaulich, wie sich im alltäglichen Leben der frühen Bauern eine hierarchische Schichtung der Dorfgemeinschaft herausbildete.

ATMO (Zug)

Sprecher
Megalithgräber im Norden und Pfahlbauten im Süden haben Wissenschaftlern in den letzten Jahren neue Einblicke in die Welt der Jungsteinzeit eröffnet. In ganz Deutschland verbreitet, aber am rätselhaftesten sind die "Erdwerke" der Steinzeitleute.

Sprecher
Der Regionalexpress von München nach Regensburg verringert kurz hinter Landshut seine Geschwindigkeit. Er quert das Tal des Eichelbachs und rollt über einen Bahndamm gemächlich auf die scharfe Kurve Richtung Norden zu. Schaut man auf der rechten Seite aus dem Fenster, fällt der Blick auf ein Raps-, dahinter ein Getreidefeld: Hier im Landshuter Löss liegt das wohl berühmteste Erdwerk Bayerns.

15. O-Ton Saile 018-144, 8'46
Wenn man in dem Zug sitzt, kann man in dieses Tälchen schauen und wenn man das häufiger macht, auf der Strecke von Landshut nach Regensburg fährt, dann guckt man hier ab und an rein, das hat der Pollinger offenbar damals auch getan und hat dann eben in dem gepflügten Zustand viele dunkle Verfärbungen auf gelblichem oder hellerem Grund gesehen.

Sprecher
Vor hundert Jahren hat der Oberlehrer Johann Pollinger die dunklen Verfärbungen als ein System zusammenhängender Gräben identifiziert – weil er von oben darauf herunterblickte, so Thomas Saile, Archäologie-Professor aus Regensburg. Das war der Anfang der Luftbildarchäologie. Heute ist Geländeerkundung aus der Luft ein Standardverfahren: Wo Reste von Gebäuden in der Erde liegen oder wo einst Gräben verliefen, zeigt der Boden nach der Ernte oder beim ersten Schnee eine andere Farbe. Gräben zum Beispiel speichern Feuchtigkeit und Kälte länger, daher ist die Erde dunkler als der umgebende Boden. Von oben lässt sich erkennen, ob die Verfärbungen ein regelmäßiges Muster ergeben, ob also von Menschen geschaffene Anlagen in der Erde ruhen. Die Gräben beim Weiler Altheim wurden 1914 ausgegraben und als "Erdwerk" identifiziert Den Kern bildete eine rechteckige Grabenanlage von etwa 40 mal 60 Metern Seitenlänge, also gut ein halbes Fußballfeld groß. Angelegt wurde der Bau um 3600 vor Christus. Später zogen die Menschen außen noch zwei Gräben darum herum. Über schmale Erdbrücken konnten sie das Innere der Anlage betreten – doch was sich dort einst befand, weiß man nicht: Archäologen finden keine Spuren mehr, weil die oberen Erdschichten im Lauf der Zeit komplett erodiert sind. Nachweisbar ist nur, dass der Innenraum von einer Reihe Holzpfosten umschlossen war, die aber längst zerfallen sind.

ATMO (Schritte & Auto)

Sprecher
Wie der Bau einmal ausgesehen haben könnte, zeigt im Museum Stadtresidenz in Landshut eine imposante, gut zwei Meter hohe Rekonstruktion.

17. O-Ton Saile 36-141, 0'41
Diese Palisade, die soll den Eindruck dieser Altheimer Anlage erwecken. Und wenn man jetzt hier durchgeht, durch den Eingang, dann gelangt man in den Saal, der sich nun mit Altheim beschäftigt.

AMTO (Schritte)

Sprecher
Die Palisade zog sich entlang des Grabens um den Innenraum der Anlage. Lange wurde sie als Befestigung interpretiert, doch heute schließen Forscher eine militärische Funktion aus: Dann hätte man das Bauwerk auf einem Hügel errichtet und nicht an einem abfallenden Hang, wo es von oben beschossen werden konnte. Die beiden Durchgänge zum Innenraum waren auch keine Tore. Professor Saile hat kürzlich erneut in der Anlage gegraben und erkannt, dass die Durchgänge exakt in einer Linie angelegt worden sind, so dass man sie für astronomische Beobachtungen nutzen konnte:

18. O-Ton Saile 37-143, 26'10
Wenn Sie jetzt auf dieser Linie stehen und durch den nordwestlichen Ausgang der Anlage schauen, dann schauen Sie auf die Horizontlinie und an einem Punkt der Horizontlinie können Sie den Untergang des Mondes bei der nördlichsten Mondwende sehen.

Sprecher
Wie Erdwerke und Kreisgrabenbauten auch anderswo zeigen, wussten die Leute der Jungsteinzeit, dass der Mond – genau wie die Sonne - nicht immer an derselben Stelle des Horizonts auf- oder untergeht. Die Orte verschieben sich im Lauf der Monate und Jahre langsam von Süden nach Norden und wieder zurück. Alle 18,61 Jahre erreicht der Mond den nördlichsten Punkt: Dann findet die Große Nördliche Mondwende statt. Diesen Zeitpunkt kannten manche Menschen im Neolithikum - und setzten ihr Wissen in Architektur um.

19. O-Ton Saile 37-143, 29'40
Wenn man diese Nördliche Mondwende bestimmen kann, dann kann man den Menschen hier vorhersagen, wann es eine Mondfinsternis geben wird. Und dann ist man also der Herr über die Zeit und die Himmelsphänomene – und das schafft natürlich Prestige.

Sprecher
Das Erdwerk von Altheim ermöglichte den "Wissenden", ihre Überlegenheit zu demonstrieren. Gräben und Palisade waren vermutlich dazu da, sie symbolisch von der übrigen Bevölkerung abzugrenzen. Das Erdwerk diente demnach zur Organisation und Selbstvergewisserung der Gemeinschaft. An diesem Ort versammelte sie sich zu wichtigen sozialen und religiösen Anlässen, Feiern inclusive. Auch das wohl bedeutendste Ritual des neolithischen Weltbilds haben die Menschen hier offensichtlich zelebriert: das Gedenken an die Ahnen. Die Archäologen stießen in den Gräben auf Menschenknochen, die unterschiedlich arrangiert worden waren. Sie identifizierten Einzelbestattungen in Hockerposition, sie fanden Schädel, sorgsam in Gruppen angeordnet und wild durcheinander liegende Knochen, die scheinbar achtlos weggeworfen worden waren. Möglich, sagt Saile, dass man sich hier von herausragenden Toten in einer Reihe unterschiedlicher Rituale verabschiedete, die im Lauf der Zeit aufeinander folgten.

20. O-Ton Saile 37-143, 37'21
Man kann sich vorstellen, dass man diese Menschen eben nicht gleich bestattet, sondern als Leichname vielleicht mumifiziert, vielleicht als Personen, die man immer wieder befragt, aufbewahrt, vielleicht in einem Gebäude, das darin errichtet ist. Und möglicherweise sind diese Knochen dann nach einigen Generationen auch wertlos, wenn die ihre Funktion nicht mehr erfüllen können, kann man die einfach in den Graben werfen, ohne dass man damit irgendeinen Frevel beginge.

Sprecher
Bei Ausgrabungen in den Gräben kamen auch fast 200 Pfeilspitzen aus Feuerstein zutage – eine ungewöhnliche Menge für die weitgehend friedliche Jungsteinzeit. Sie können nicht alle von Pfeilen für die Jagd stammen, meint der Ausgräber, sondern lassen einen Angriff auf das Erdwerk vermuten.

21. O-Ton Saile 37-143, 48'33
Das könnte man sich so erklären, dass diese Anlage, die über viele Generationen ja genutzt ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt in einen Konflikt gerät. Man weiß jetzt nicht, wer gegen wen, vermutlich gar nicht weit entfernte Gruppen, sondern einfach die benachbarten Siedlungsgemeinschaften, die aus irgendeinem Grund jetzt mit dieser Siedlungsgruppe am Eichelbach in einen Konflikt geraten ist und den dann auch gewalttätig austrägt.

Sprecher
Die Kampfspuren bestätigen eine aktuelle Erkenntnis der Forschung: In den letzten Jahren sind an neolithischen Fundstellen mehrfach Spuren von Gewalt ans Licht gekommen: Belege für Überfälle, ja Massaker in kleinen Siedlungsgemeinschaften. Im Vergleich zu anderen Zeiten sind es Einzelfälle – sie belegen jedoch, dass die Epoche nicht die friedliche Idylle war, die man sich lange vorstellte.

ATMO (Schritte & Tür zuschlagen)

Sprecher
Die spektakulärsten Funde aus den Altheimer Gräben findet man nicht im Museum in Landshut. Sie liegen wohlverpackt im Magazin der Archäologischen Staatssammlung in München.

ATMO (Rascheln & Klappern)

22. O-Ton Schwarzberg 34-139, 0'50
Wir haben hier zwei Kupferbleche, das eine ist 1914 gefunden worden, das andere mit eingerollten Enden ist aus den neuen Grabungen, das ist 2013 entdeckt worden. Hier ist ein weiterer Fund, das ist ein sehr kleines Beil, nicht ganz 10 Zentimeter lang, ein grün korrodiertes Kupferbeil, es ist sehr gut erhalten, es ist noch heute relativ scharf-

Sprecher
- aber es wurde sicher nicht als Werkzeug benutzt, erklärt Dr. Heiner Schwarzberg, Experte für Vorgeschichte bei der Staatssammlung: Die Kupferobjekte glänzten ursprünglich in rötlich-goldenen Farbtönen. Wer so etwas besaß, in einer Zeit, als praktisch alle Waffen und Geräte aus Stein, Holz und Knochen gefertigt wurden, trug sie als prestigeträchtige Schmuckstücke zu Schau.
Auch die Funde aus Altheim illustrieren, wie sich gegen Ende des Neolithikums die egalitäre Gesellschaft in unterschiedliche soziale Schichten spaltete. Zugleich kündigt der Werkstoff Metall, von dem hier gerade mal sieben Objekte gefunden wurden, bereits den Übergang in die nächsten Epochen an: die Metallzeiten.

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Autor: Matthias Hennies
Regie: Martin Trauner
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Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.
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Dunkle Wolken ziehen auf, der Wind schüttelt die Kronen der alten Buchen und die Archäologen legen die Schaufeln beiseite. Wenige Kilometer von der Ostseeküste entfernt, in einem Wald bei Wangels in Holstein, untersuchen sie ein Großsteingrab aus der Jungsteinzeit. Rund um die riesigen Findlinge, die den Bestattungsplatz der frühen Bauern markieren, tragen sie Zentimeter für Zentimeter die Erde ab. Doch nun droht der nächste Regenguss und sie müssen die Ausgrabung mit einer dicken Plane zudecken.

ATMO (Gespräche & Knistern)
Muss da noch höher, das regnet sonst rein!

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Sprecher
Nach dem Schauer tupfen die Forscher, großenteils Studenten von der Universität Kiel, mit Schwämmen das Regenwasser aus der Grabungsfläche. In einem großen Forschungsprojekt zum Neolithikum, der Epoche der ersten Bauern, suchen sie nach einer Erklärung für den Boom der Megalithbauten: In Norddeutschland haben sich ab 4000 vor Christus die Ackerbauern und Viehzüchter durchgesetzt. Nur wenige Menschen zogen noch als Jäger und Sammler umher, die meisten hatten sich an einem festen Ort niedergelassen, ernteten Getreide und Hülsenfrüchte, züchteten Rinder, Pferde und Schweine. Um 3600 vor Christus begannen die Bauern dann, für ihre Toten mächtige Grabhügel aus schweren Steinbrocken aufzutürmen. Aber warum? Das muss die Archäologie noch klären. Am Grab bei Wangels allerdings ist es im Augenblick zu nass zum Ausgraben.

ATMO (Gespräche & Plätschern)
Hier kannst du noch näher an die Steine ran, oh ja.

Sprecher
Ihre geräumigen Langhäuser bauten die frühen Bauern aus Holz und Lehm, berichtet Martin Hinz, der Grabungsleiter, doch die Gräber errichteten sie aus Stein. Darin zeigt sich, welche Bedeutung sie ihren Vorfahren zumaßen: Die steinernen Wohnstätten der Toten waren dauerhaft, die hölzernen Bauten für die Lebenden aber vergänglich. Die Leute wussten genau, wie man mit Stein baut: Die Lücken zwischen den mächtigen, unförmigen Findlingen haben sie sorgsam mit Trockenmauerwerk gefüllt, so dass geschlossene Wände entstanden. Der Eingang blieb offen, denn die Bauten wurden in der Regel mehrere Generationen lang genutzt. Im Volksmund Norddeutschlands heißen sie wegen ihrer Größe "Hünengräber", doch die Forschung hat gezeigt:

2. O-Ton Hinz XIV 099-033, 31'23
Dass hier kein ausgewählter Personenkreis bestattet worden ist. Wir haben Kinder, Frauen, Männer, daher ist anzunehmen, dass es wirklich ein Bestattungsort war für jedermann, keine expliziten Häuptlingsgräber, wie man das früher immer noch gedacht hat.

Sprecher
Um aus tonnenschweren Findlingen einen Grabbau zu errichten, mussten alle Bewohner eines Dorfes anpacken – und später setzten alle ihre Toten darin bei. Niemand stach aus der Gemeinschaft heraus: Weder im Tod durch ein Einzelgrab oder kostbare Beigaben, noch im Leben durch ein riesiges Haus oder prunkvollen Besitz. Die frühen Bauern lebten einige Jahrhunderte lang in einer weitgehend egalitären Gesellschaft. Mit den gemeinschaftlich errichteten Grabbauten dokumentierten sie ihre Zusammengehörigkeit. Zugleich markierten sie damit ihren Grund und Boden, erklärt Dr. Hinz:

3. O-Ton Hinz XIV 099-033, 35'52
Das ist sicher nicht losgelöst davon, dass Land jetzt eine ganz andere Qualität bekommt, es wird eine Ressource, man investiert in das Land, man muss den Acker roden, man muss Arbeit hinein investieren und da kommt sicher auch ein anderes Bewusstsein auf für Landschaft.

Sprecher
Die mobilen Jäger- und Sammler-Gruppen waren immer dorthin gezogen, wo die Natur ihnen gerade die besten Ressourcen bot. Die Bauern aber siedelten sich an einem Ort an und entwickelten eine engere Beziehung zum Land, ihrer Lebengrundlage: Sie nahmen es dauerhaft in Besitz, deshalb errichteten sie ihre steinernen Gemeinschaftsgräber darauf. Die Bauten demonstrieren das neue Bewusstsein für Dauer und Besitz, das sich in der Jungsteinzeit entwickelte. In Süddeutschland dagegen, da, wo die Gletscher der Eiszeit keine Findlinge abgelagert haben, entwickelten die Menschen des Neolithikums andere Bräuche, um ihre Ahnen zu ehren und sich ihrer Zusammengehörigkeit zu vergewissern. Dort ließen sich die ersten Bauern um 5500 vor Christus nieder, etwa ab 3800 entstanden Pfahlbauten an den Seeufern des Voralpenlandes. Die Pfahlbauten bieten den Archäologen die besten Forschungsmöglichkeiten, weil Holz und Lehm, Textilien und Pflanzenreste im feuchten Boden, abgeschlossen vom Sauerstoff, Jahrtausende überdauern können.

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Zentrum der Pfahlbau-Forschung ist das Amt für Denkmalpflege in Hemmenhofen am Bodensee, Dr. Helmut Schlichtherle hat es lange geleitet. Er kann ein einzigartiges Beispiel für den jungsteinzeitlichen Ahnenkult zeigen, das kürzlich aufwändig rekonstruiert wurde. In Ludwigshafen am Bodensee, ausgerechnet im Strandbad, waren Bruchstücke von der lehmverputzten Wand eines neolithischen Hauses zutage gekommen – einer Wand, die großflächig mit Malereien bedeckt war.

5. O-Ton Schlichtherle OT 12, 9'02
Die Badegäste standen mehrere Sommer schon in diesen Malereifragmenten, die durch die Wellen freigelegt worden sind und wir waren dann mit unseren Tauchern dort und haben vor allem das geborgen, was im Seegrund noch zugedeckt war-

Sprecher
Ergebnis war ein Puzzle von weit über 1.000 Teilen, das dann in die Labors der Denkmalpflege wanderte. Dort hat Schlichtherle die Lehmbruchstücke mit seinen Mitarbeiterinnen Margarethe Schweikle und Manuela Fischer in mühsamer Kleinarbeit nach und nach zusammengesetzt.

6. O-Ton Schweikle OT 12, 11'16
Das lag dann hier jahrelang rum, oder? Gelächter. Schon ein paar Jahre. Und ich hab quasi dann die Einzelscherben rausgeholt und dann geklebt, das kann man jetzt auch in die Hand nehmen, hier dran sieht man die Schultern und das Händchen, also das ist ein ganz wichtiges Stück-

O-Ton Fischer OT 12
Hier hinter Ihnen in diesem Regal sind, ich weiß nicht, wie viele Kisten, über hundert, da liegen immer noch sehr viele Stücke drin. Die wo wir zuordnen konnten, das sind diese bemalten Hüttenlehmstücke, haben wir den Frauen zugeordnet, aber ansonsten gibt es in diesem Chaos noch sehr viele Stücke, die teils keine Bemalung haben, einfach nur aus der Wand rausgebrochen sind, ohne Hinweis, die können wir gar nicht zuordnen, das liegt alles noch in diesen Kisten.

Sprecher
Das mehrere Meter lange Fresko zeigt sieben fast lebensgroße, stilisierte Frauengestalten, mit weißer Farbe auf die braune Wand gemalt. Ihre Brüste stehen plastisch, aus Lehm geformt, aus der Wand hervor, ihre Arme dagegen sind nur angedeutet, die Beine gar nicht dargestellt. Bei vier Gestalten ist der Kopf wiedergegeben, mit einem auffälligen Kranz von Haaren oder Strahlen darum herum.

Schlichtherle interessiert sich besonders für die abstrahierten Figuren zwischen den Frauengestalten: Strichmännchen mit ausgebreiteten Armen oder Beinen: Zu neun, zehn, elf übereinandergestapelt, ergeben sie ein Muster, das an einen Baum erinnert – einen Lebensbaum, nennt es der Archäologe. Er deutet die Abfolge von Strichmännchen als eine Ahnenreihe, die Generation um Generation in die Vergangenheit zurückführt. Den Schlüssel zu dieser Interpretation liefern ihm Verzierungen auf neolithischen Keramikgefäßen.

7. O-Ton Schlichtherle OT 12, 24'25
Auf diesen Gefäßen gibt es wieder diese Lebensbäume, in denen wir die Ahnenreihen sehen können. Gleichzeitig sehen wir, dass es hier sonnenartige Knubben und Ösen auf den Gefäßen gibt, die ganz stark erinnern an die sonnenartigen Köpfe der weiblichen Gestalten.
Und in einem Fall ist auch klar, dass die weiblichen Gestalten mit ihren sonnenartigen Köpfen über den Ahnenreihen sitzen.

Sprecher
Die Ahnenreihen führen demnach zurück zu den großen Frauengestalten: Sie sind die weiblichen Urahnen der verschiedenen Sippen im Dorf. Nicht zu verwechseln mit der Muttergottheit oder Urmutter, die man lange in der Glaubenswelt der Steinzeitkulturen finden wollte. Die Wand spiegelt also vermutlich die Genealogie der Dorfgemeinschaft. Anhand der Malerei vergewisserte sich das Dorf seiner Identität. Diese Deutung deckt sich mit einer Erkenntnis der Ethnologie: Kulturen, die keine Schrift haben, definieren sich häufig durch detailliertes, sorgsam memoriertes Wissen über ihre Ahnenreihen. Dass der Ahnenkult in der geistigen Welt des Neolithikums eine zentrale Rolle spielte, weiß man seit langem. Doch nirgends ist bisher eine so subtile Ikonographie aufgetaucht wie auf der Kultwand von Ludwigshafen am Bodensee. Und sie scheint direkt aus dem Leben gegriffen: Kein spektakulärer Großbau, kein überregionales Kultzentrum, sondern ein alltäglicher Gegenstand, den es vermutlich in jedem Dorf gab - wie der Altar der Pfarrkirche, vor dem sich die Kinder zur Kommunion versammeln.

9. O-Ton Schlichtherle OT 13, 8'18
Ich könnte mir gut vorstellen, dass vor dieser Wand, in diesem Innenraum, Initiationsfeiern stattfanden, dass über diese Gestalten gesprochen wurde, dass die Mythen repliziert und immer wieder wiederholt wurden. Eine schriftlose Kultur lebt von der Wiederholung solcher Geschichten und auch diese Wand ist eine Verbildlichung von Inhalten, das ist der Überbau dieser Gesellschaft, der hier eine Bildform gekriegt hat. Sowas hat es sicher häufig gegeben, wir haben die einmalige Chance gehabt, es mal zu finden.

Sprecher
Nicht dass Schlichtherle Mangel an eindrucksvollen Funden hätte: Da ist auch das Modell der Steinzeit-Siedlung Torwiesen, die am Rand des Federsees in Oberschwaben nahezu komplett geborgen werden konnte. Als die Menschen den Ort um 3300 vor Christus verlassen hatten, wuchs Torf über die Häuser und Bohlenwege: Stützpfähle, Fußböden, auch eingestürzte Wände blieben erhalten – darüber hinaus die Reste der Pflanzen, die hier in der Jungsteinzeit verzehrt oder verarbeitet wurden, tote Insekten und zerrissene Fischernetze.

4. O-Ton Schlichtherle
(Innen, Schritte) Ich mache mal die Tür zu, da sind oft Geräusche. (Klappert)

Sprecher
Helmut Schlichtherle hat das Dorf auf einer Sperrholzplatte im kleinen Maßstab nachbauen lassen: 15 Häuser, rechts und links eines soliden Bohlenweges aufgereiht, alle aus Holzstäbchen und Bastfäden, ein bisschen größer als die Gebäude einer Modelleisenbahn. Darunter liegt, grauschwarz angestrichen, das vertorfte Ufer aus Pappmaschee. Alle Häuser bis auf drei wirken gleich groß und stehen parallel nebeneinander, die Giebel zur zentralen Dorfstraße ausgerichtet. Vor jedem Eingang liegt ein Dreschplatz – doch der erste Eindruck täuscht: "Torwiesen" war kein egalitäres Dorf.

12. O-Ton Schlichtherle OT 9, 9'56
Wenn wir etwas genauer hingucken, sehen wir, dass die Häuser im Dorf von vorn nach hinten kleiner werden. Das erste Haus hier ist am längsten und gehen wir die Dorfstraße entlang bis zum letzten, dann ist das nur noch halb so groß.

Sprecher
Dasselbe Muster zeigte sich, als die Archäologen die Verteilung der Kleinfunde analysierten: Die ersten, größten Häuser waren gut mit Getreide und anderen Kulturpflanzen versorgt, in den letzten Häusern dagegen fanden sich nur wenige Dreschreste, dort brachte der Feldbau offensichtlich nur geringe Erträge. Und dann sind da noch drei winzige Häuser hinter und zwischen die geräumigen Bauten der Landwirte gequetscht: Die Grundfläche reichte gerade aus, dass sich zwei Personen abends auf dem Boden ausstrecken konnten.

14. O-Ton Schlichtherle OT 9, 17'12
Das könnte tatsächlich eine andere Schicht sein. Wir wissen, dass in den kleinen Häuschen spezielle Dinge gemacht worden sind: In diesen beiden saßen Bogenbauer, wir wissen, dass in zwei der kleinen Häuser Fischereigerät war, das ist auch eine Ausnahme in der Siedlung, und dann wissen wir, dass Sammeltätigkeit eine große Rolle spielt: Also nicht landwirtschaftliche Produkte, sondern in der Natur gesammelte Produkte und teilweise sogar Samen von Ackerunkräutern, die in großer Menge eingesammelt wurden. Also die Kleinhäusler hatten das Recht, auf den Feldern der Großbauern die Unkräuter einzusammeln und zu verwerten.

Sprecher
Das Ende der egalitären jungsteinzeitlichen Gesellschaft hatten Forscher bisher nur an neuen Bestattungssitten erkannt: Anstelle gemeinschaftlicher Grabstätten wie den Megalithbauten begannen die Menschen, Einzelgräber anzulegen, offenkundig für Anführer oder Häuptlinge. Jetzt aber zeigen die kleinteiligen Funde aus Torwiesen sehr anschaulich, wie sich im alltäglichen Leben der frühen Bauern eine hierarchische Schichtung der Dorfgemeinschaft herausbildete.

ATMO (Zug)

Sprecher
Megalithgräber im Norden und Pfahlbauten im Süden haben Wissenschaftlern in den letzten Jahren neue Einblicke in die Welt der Jungsteinzeit eröffnet. In ganz Deutschland verbreitet, aber am rätselhaftesten sind die "Erdwerke" der Steinzeitleute.

Sprecher
Der Regionalexpress von München nach Regensburg verringert kurz hinter Landshut seine Geschwindigkeit. Er quert das Tal des Eichelbachs und rollt über einen Bahndamm gemächlich auf die scharfe Kurve Richtung Norden zu. Schaut man auf der rechten Seite aus dem Fenster, fällt der Blick auf ein Raps-, dahinter ein Getreidefeld: Hier im Landshuter Löss liegt das wohl berühmteste Erdwerk Bayerns.

15. O-Ton Saile 018-144, 8'46
Wenn man in dem Zug sitzt, kann man in dieses Tälchen schauen und wenn man das häufiger macht, auf der Strecke von Landshut nach Regensburg fährt, dann guckt man hier ab und an rein, das hat der Pollinger offenbar damals auch getan und hat dann eben in dem gepflügten Zustand viele dunkle Verfärbungen auf gelblichem oder hellerem Grund gesehen.

Sprecher
Vor hundert Jahren hat der Oberlehrer Johann Pollinger die dunklen Verfärbungen als ein System zusammenhängender Gräben identifiziert – weil er von oben darauf herunterblickte, so Thomas Saile, Archäologie-Professor aus Regensburg. Das war der Anfang der Luftbildarchäologie. Heute ist Geländeerkundung aus der Luft ein Standardverfahren: Wo Reste von Gebäuden in der Erde liegen oder wo einst Gräben verliefen, zeigt der Boden nach der Ernte oder beim ersten Schnee eine andere Farbe. Gräben zum Beispiel speichern Feuchtigkeit und Kälte länger, daher ist die Erde dunkler als der umgebende Boden. Von oben lässt sich erkennen, ob die Verfärbungen ein regelmäßiges Muster ergeben, ob also von Menschen geschaffene Anlagen in der Erde ruhen. Die Gräben beim Weiler Altheim wurden 1914 ausgegraben und als "Erdwerk" identifiziert Den Kern bildete eine rechteckige Grabenanlage von etwa 40 mal 60 Metern Seitenlänge, also gut ein halbes Fußballfeld groß. Angelegt wurde der Bau um 3600 vor Christus. Später zogen die Menschen außen noch zwei Gräben darum herum. Über schmale Erdbrücken konnten sie das Innere der Anlage betreten – doch was sich dort einst befand, weiß man nicht: Archäologen finden keine Spuren mehr, weil die oberen Erdschichten im Lauf der Zeit komplett erodiert sind. Nachweisbar ist nur, dass der Innenraum von einer Reihe Holzpfosten umschlossen war, die aber längst zerfallen sind.

ATMO (Schritte & Auto)

Sprecher
Wie der Bau einmal ausgesehen haben könnte, zeigt im Museum Stadtresidenz in Landshut eine imposante, gut zwei Meter hohe Rekonstruktion.

17. O-Ton Saile 36-141, 0'41
Diese Palisade, die soll den Eindruck dieser Altheimer Anlage erwecken. Und wenn man jetzt hier durchgeht, durch den Eingang, dann gelangt man in den Saal, der sich nun mit Altheim beschäftigt.

AMTO (Schritte)

Sprecher
Die Palisade zog sich entlang des Grabens um den Innenraum der Anlage. Lange wurde sie als Befestigung interpretiert, doch heute schließen Forscher eine militärische Funktion aus: Dann hätte man das Bauwerk auf einem Hügel errichtet und nicht an einem abfallenden Hang, wo es von oben beschossen werden konnte. Die beiden Durchgänge zum Innenraum waren auch keine Tore. Professor Saile hat kürzlich erneut in der Anlage gegraben und erkannt, dass die Durchgänge exakt in einer Linie angelegt worden sind, so dass man sie für astronomische Beobachtungen nutzen konnte:

18. O-Ton Saile 37-143, 26'10
Wenn Sie jetzt auf dieser Linie stehen und durch den nordwestlichen Ausgang der Anlage schauen, dann schauen Sie auf die Horizontlinie und an einem Punkt der Horizontlinie können Sie den Untergang des Mondes bei der nördlichsten Mondwende sehen.

Sprecher
Wie Erdwerke und Kreisgrabenbauten auch anderswo zeigen, wussten die Leute der Jungsteinzeit, dass der Mond – genau wie die Sonne - nicht immer an derselben Stelle des Horizonts auf- oder untergeht. Die Orte verschieben sich im Lauf der Monate und Jahre langsam von Süden nach Norden und wieder zurück. Alle 18,61 Jahre erreicht der Mond den nördlichsten Punkt: Dann findet die Große Nördliche Mondwende statt. Diesen Zeitpunkt kannten manche Menschen im Neolithikum - und setzten ihr Wissen in Architektur um.

19. O-Ton Saile 37-143, 29'40
Wenn man diese Nördliche Mondwende bestimmen kann, dann kann man den Menschen hier vorhersagen, wann es eine Mondfinsternis geben wird. Und dann ist man also der Herr über die Zeit und die Himmelsphänomene – und das schafft natürlich Prestige.

Sprecher
Das Erdwerk von Altheim ermöglichte den "Wissenden", ihre Überlegenheit zu demonstrieren. Gräben und Palisade waren vermutlich dazu da, sie symbolisch von der übrigen Bevölkerung abzugrenzen. Das Erdwerk diente demnach zur Organisation und Selbstvergewisserung der Gemeinschaft. An diesem Ort versammelte sie sich zu wichtigen sozialen und religiösen Anlässen, Feiern inclusive. Auch das wohl bedeutendste Ritual des neolithischen Weltbilds haben die Menschen hier offensichtlich zelebriert: das Gedenken an die Ahnen. Die Archäologen stießen in den Gräben auf Menschenknochen, die unterschiedlich arrangiert worden waren. Sie identifizierten Einzelbestattungen in Hockerposition, sie fanden Schädel, sorgsam in Gruppen angeordnet und wild durcheinander liegende Knochen, die scheinbar achtlos weggeworfen worden waren. Möglich, sagt Saile, dass man sich hier von herausragenden Toten in einer Reihe unterschiedlicher Rituale verabschiedete, die im Lauf der Zeit aufeinander folgten.

20. O-Ton Saile 37-143, 37'21
Man kann sich vorstellen, dass man diese Menschen eben nicht gleich bestattet, sondern als Leichname vielleicht mumifiziert, vielleicht als Personen, die man immer wieder befragt, aufbewahrt, vielleicht in einem Gebäude, das darin errichtet ist. Und möglicherweise sind diese Knochen dann nach einigen Generationen auch wertlos, wenn die ihre Funktion nicht mehr erfüllen können, kann man die einfach in den Graben werfen, ohne dass man damit irgendeinen Frevel beginge.

Sprecher
Bei Ausgrabungen in den Gräben kamen auch fast 200 Pfeilspitzen aus Feuerstein zutage – eine ungewöhnliche Menge für die weitgehend friedliche Jungsteinzeit. Sie können nicht alle von Pfeilen für die Jagd stammen, meint der Ausgräber, sondern lassen einen Angriff auf das Erdwerk vermuten.

21. O-Ton Saile 37-143, 48'33
Das könnte man sich so erklären, dass diese Anlage, die über viele Generationen ja genutzt ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt in einen Konflikt gerät. Man weiß jetzt nicht, wer gegen wen, vermutlich gar nicht weit entfernte Gruppen, sondern einfach die benachbarten Siedlungsgemeinschaften, die aus irgendeinem Grund jetzt mit dieser Siedlungsgruppe am Eichelbach in einen Konflikt geraten ist und den dann auch gewalttätig austrägt.

Sprecher
Die Kampfspuren bestätigen eine aktuelle Erkenntnis der Forschung: In den letzten Jahren sind an neolithischen Fundstellen mehrfach Spuren von Gewalt ans Licht gekommen: Belege für Überfälle, ja Massaker in kleinen Siedlungsgemeinschaften. Im Vergleich zu anderen Zeiten sind es Einzelfälle – sie belegen jedoch, dass die Epoche nicht die friedliche Idylle war, die man sich lange vorstellte.

ATMO (Schritte & Tür zuschlagen)

Sprecher
Die spektakulärsten Funde aus den Altheimer Gräben findet man nicht im Museum in Landshut. Sie liegen wohlverpackt im Magazin der Archäologischen Staatssammlung in München.

ATMO (Rascheln & Klappern)

22. O-Ton Schwarzberg 34-139, 0'50
Wir haben hier zwei Kupferbleche, das eine ist 1914 gefunden worden, das andere mit eingerollten Enden ist aus den neuen Grabungen, das ist 2013 entdeckt worden. Hier ist ein weiterer Fund, das ist ein sehr kleines Beil, nicht ganz 10 Zentimeter lang, ein grün korrodiertes Kupferbeil, es ist sehr gut erhalten, es ist noch heute relativ scharf-

Sprecher
- aber es wurde sicher nicht als Werkzeug benutzt, erklärt Dr. Heiner Schwarzberg, Experte für Vorgeschichte bei der Staatssammlung: Die Kupferobjekte glänzten ursprünglich in rötlich-goldenen Farbtönen. Wer so etwas besaß, in einer Zeit, als praktisch alle Waffen und Geräte aus Stein, Holz und Knochen gefertigt wurden, trug sie als prestigeträchtige Schmuckstücke zu Schau.
Auch die Funde aus Altheim illustrieren, wie sich gegen Ende des Neolithikums die egalitäre Gesellschaft in unterschiedliche soziale Schichten spaltete. Zugleich kündigt der Werkstoff Metall, von dem hier gerade mal sieben Objekte gefunden wurden, bereits den Übergang in die nächsten Epochen an: die Metallzeiten.

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